„Krankentagegeld und Nettoeinkommen“ – das war vor einigen Jahren nach einer BGH‑Entscheidung eine große Herausforderung, für die es schnell Lösungsmöglichkeiten gab.1 Ob diese auch für das Thema „Einkommen in der BU‑Versicherung“ genutzt werden können, soll im Weiteren vergleichend betrachtet werden, denn das Einkommen ist integraler Prüfungspunkt der BU‑Leistungsprüfung und durchaus nicht selten sogar der zentrale Aspekt, der über das Wohl und Wehe eines Leistungsantrages entscheiden kann.
Zudem soll der Vergleich aus verschiedenen Blickwinkeln erfolgen: Das Einkommen steht sowohl bei der Prüfung der vorvertraglichen Anzeigepflicht als auch bei der Frage nach dem Inhalt und Umfang der beruflichen Tätigkeit sowie bei Umorganisations- und Verweisungsfragen im Mittelpunkt.
Unschärfe des Begriffs „Einkommen“
Gesprächsbedarf über den Begriff des Einkommens ergibt sich schon allein deshalb, weil „das Einkommen“ kein fest definierter Begriff ist, der allgemein verständlich, klar umrissen und frei von Missverständnissen wäre. Eine Definition – jedenfalls im Berufsunfähigkeitsprodukt – fehlt vielmehr. Hinzu kommt, dass das Einkommen in zwei Varianten auftritt, nämlich einmal als Bruttoeinkommen und einmal als Nettoeinkommen. An begrifflicher Schärfe ist mit dieser Unterteilung allerdings nichts gewonnen, im Gegenteil wird die Unschärfe durch diese Unterscheidung nur noch größer. Vollends geht die Konturenschärfe verloren, wenn man die beiden Begriffe auf Selbstständige anzuwenden versucht.
Das belegen nachdrücklich zwei markante obergerichtliche Entscheidungen aus Karlsruhe und Köln. Danach sind sowohl der Begriff des Nettoeinkommens als auch der des Bruttoeinkommens problematisch:
- OLG Karlsruhe: „Die Frage nach dem Jahresbruttoeinkommen ist missverständlich gestellt.“2
- OLG Köln: „Der Begriff des Nettoeinkommens ist aus Sicht eines Selbstständigen unklar und mehrdeutig.“3
Es lohnt sich, den Begründungen der Oberlandesgerichte Beachtung zu schenken. Instruktiv ist etwa aus dem Urteil des OLG Köln folgende Passage:
„Der Begriff des Nettoeinkommens ist aus Sicht eines Selbstständigen unklar und mehrdeutig. Entgegen der Auffassung der Beklagten ergibt sich weder aus dem Begriff selbst noch aus dem Kontext der Regelungen und Erläuterungen der Zusatzerklärung noch aus Sinn und Zweck der Zusatzerklärung eindeutig, dass es auf ein steuerrechtlich ermitteltes Nettoeinkommen ankommen soll – wobei selbst dann unklar wäre, was letztlich damit gemeint sein soll. Es ist für einen Selbstständigen ohne Weiteres möglich, etwa durch Verlustzuweisungen und Abschreibungen sein Einkommen unter die Steuerpflicht zu ‚drücken‘. Dass ein Selbstständiger so zumindest steuerlich kein Einkommen erzielt, sondern nur Verluste, und (vermeintlich) von der Substanz lebt, ist nicht ungewöhnlich, bedeutet aber nicht, dass nicht gleichwohl ein gewisser Lebensstandard gehalten wird. Der Versicherer will seinerseits nur verhindern, dass ein zu großer Anreiz geschaffen wird, keiner Tätigkeit mehr nachzugehen und von Versicherungsleistungen zu leben. Dem entspricht es eher, wenn auf tatsächliche, d. h. realistische Verhältnisse abgestellt wird.“
Wir sehen: Die Begriffe Brutto- und Nettoeinkommen sind nicht selbsterklärend. Auch ein Blick ins Steuerrecht hilft nicht weiter, denn beide Begriffe sind dort ebenso wenig allgemeinverbindlich legal definiert wie im VVG, wie das OLG Köln anschaulich und leicht verständlich mitteilt („unklar, was letztlich damit gemeint sei soll“).
Die Situation in der KTG‑Versicherung
Die Herausforderung in der Krankentagegeldversicherung entstand seinerzeit durch eine höchstrichterliche Entscheidung, mit der die damalige Regelung des § 4 Abs. 4 MBKT 09 wegen mangelnder Transparenz für unwirksam erklärt wurde.4 Dort ging es (nur) um das Nettoeinkommen gemäß §§ 2 und 4 MBKT 09.
Der BGH bemängelte, die Klausel lasse offen, „wie sich dieses ‚Nettoeinkommen‘ bei beruflich selbstständigen Versicherungsnehmern zusammensetzt“. Er setzt dabei tatsächlich den Begriff des Nettoeinkommens in Anführungsstriche, so als fasse er einen verschmutzten Gegenstand mit spitzen Fingern an, den er mit gerümpfter Nase gegen das Licht hält, um ihn besser untersuchen zu können. Immerhin: Der Begriff sei der Auslegung zugänglich. Allerdings: Unterschiedliche Rechtsgebiete verstehen den Einkommensbegriff unterschiedlich. Der BGH konstatiert:
„Ein für alle Rechtsgebiete gleichermaßen geltender Einkommensbegriff oder eine einheitliche Regelung über die maßgeblichen Abzüge zur Ermittlung eines Nettobetrages hat sich nicht herausgebildet.“
Das Resultat:
„Ohne nähere Erläuterung im Tarif- und Bedingungswerk wird dem durchschnittlichen, juristisch nicht vorgebildeten Versicherungsnehmer – wie die vorstehend dargelegte Kontroverse in Rechtsprechung und Literatur belegt – auch bei aufmerksamer und sorgfältiger Lektüre des Vertrages nicht mit der gebotenen Klarheit vermittelt, was mit dem Begriff ‚Nettoeinkommen‘ gemeint ist.“
Lösungsansätze in der KTG‑Versicherung
Was war zu tun? Handlungsbedarf gab es, denn der Begriff des Nettoeinkommens ist in der KTG‑Versicherung leistungsrelevantes Tatbestandsmerkmal der AVB. Der Begriff des „Nettoeinkommens“ begrenzt den „Umfang der Leistungspflicht“ (so die Überschrift des § 4 MBKT 09). Folglich gilt es, diesem 2016 als intransparent beurteilten Begriff Transparenz zu verleihen, wenn man an dessen beabsichtigtem Regelungsinhalt und an dem Charakter als Summenversicherung festhalten möchte.
Mutatis mutandis ist auch hier die Maxime, denn Sauer5 erkennt zu Recht:
„Verschiedene berufliche Sachverhalte sollten verschieden geregelt werden.“
Sauer schlägt vor, das Nettoeinkommen bei Vertragsschluss zwischen Versicherer und Antragsteller individuell zu vereinbaren, indem die versicherbare Einkommenshöhe ermittelt wird und der dabei angewendete „Rechenvorgang“ zu der individuell ermittelten Einkommenshöhe offengelegt wird. Drei bis vier Rechenschritte seien dafür erforderlich, aber auch genügend, so Sauer. In den AVB könne auf dieses Prozedere verwiesen werden.
Der Begriff des Nettoeinkommens wäre damit gerettet und könnte somit auch weiterhin in den AVB verwendet werden, wenn und soweit er nämlich unternehmensindividuell mit Leben (und Transparenz) gefüllt wird.
Die Situation in der BU‑Versicherung
In der BU‑Versicherung sieht das ein wenig anders aus. Das Einkommen, so zentral dieser Prüfungspunkt für mehrere Stationen auf dem Weg der Leistungsprüfung ist, findet sich als Begriff nach den GDV‑Musterbedingungen nur an einer einzigen Stelle, nämlich bei den Mitwirkungsobliegenheiten. In der Definition des Leistungsfalles „Berufsunfähigkeit“ kommt der Begriff des Einkommens hingegen nicht vor.
In § 7 über die Mitwirkungspflichten heißt es:
„Wird eine Leistung aus dem Vertrag beansprucht, müssen … vorgelegt werden: … e) Angaben über Einkommen aus beruflicher Tätigkeit“.
Diese Klausel fordert die Versicherten auf, sich zunächst überhaupt erst einmal über ihre Einkommensverhältnisse zu erklären, und legt sich weder bezüglich der Angaben noch bezüglich der Ausgestaltung des Einkommens fest. Einkommensteuerbescheide etwa stellen eine in der Praxis hinreichend einigungsfähige und selten hinterfragte Ausgangslage dar, von der aus im Einzelfall weitere Unterlagen bei Bedarf nachvollziehbar und begründbar (im Sinne von: auf die Klausel rückführbar) angefordert werden können.
Wo das nicht ausreicht, lassen sich nach § 7 Abs. 2 der GDV‑Musterbedingungen Nachweise über die „wirtschaftlichen Verhältnisse“ anfordern, womit Diskussionen um den Einkommensbegriff elegant aus dem Weg gegangen wird.
Dass im Leistungsfall auch Selbstständige betriebswirtschaftliche Unterlagen einreichen müssen, um Auskunft über ihr Einkommen zu geben, hat das OLG Köln schon 2007 – seitdem unwidersprochen – entschieden:6
„Ein selbstständig tätiger Versicherungsnehmer, der Leistungen aus einer Berufsunfähigkeitsversicherung begehrt, hat gemäß § 4 Abs. 1 Buchst. d BB‑BUZ Unterlagen beizubringen, die den Versicherer in die Lage versetzen, zum einen die Größe und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Betriebes, zum anderen aber auch die Höhe des erzielten Einkommens beurteilen zu können. Denn nur unter Einbeziehung betriebswirtschaftlicher Unterlagen des Unternehmens kann geklärt werden, ob und ggf. wie dem Versicherungsnehmer eine Umorganisation möglich und wirtschaftlich zumutbar ist und ihm trotz der behaupteten Erkrankung noch ein Betätigungsfeld verbleibt.“
Bleibt die vorvertragliche Anzeigepflicht. Hier stehen die Fragen des Versicherers und die Antworten des Antragstellenden im Blick. Zudem besteht ein Spannungsverhältnis, da die Antragstellung als Massengeschäft einerseits auf einfache, leicht verständliche und ebenso zuverlässig zu beantwortende Fragen angewiesen ist, aber die Angaben der Antragstellenden andererseits belastbar und zutreffend sein müssen, zumal sie im Falle der Unwahrheit gemäß § 19 ff. VVG sanktionierbar sind. Das wiederum setzt Fragen voraus, die auch wahrheitsgemäß beantwortet werden können.
Welche Fragen sollten klugerweise gestellt werden, um diejenigen Informationen valide zu erhalten, die für eine sachgerechte Risikoeinschätzung erforderlich sind, ohne die Antragstellenden auf falsche Fährten zu locken und ohne unnötig Auslegungsspielräume zu eröffnen?
Die Rechtsprechung hat sich zwar mit der Zielrichtung und Reichweite der bei Antragstellung gestellten Fragen auseinandergesetzt und die in den beurteilten Sachverhalten vorgefundene Begrifflichkeit jeweils durchaus zu Recht kritisiert, diese Fragen und Begriffe jedoch als auslegungsfähig angesehen. Die gute Nachricht daran ist: Können Fragen ausgelegt werden, müssen sie wahrheitsgemäß beantwortet werden. Es dürfen dann also keine Angaben „ins Blaue hinein“ gemacht und es darf auch nicht gelogen werden, auch wenn die Frage vielleicht auf den ersten Blick nicht ganz eindeutig erscheint.
Der begrifflichen Unschärfe auf der Seite der Fragen wird dann mit Plausibilitätserwägungen auf der Seite der Antworten begegnet.
Gleichwohl: Befriedigend erscheint es nicht, mit Begrifflichkeiten zu hantieren, die – mittlerweile fast schon vor Jahrzehnten – als missverständlich, unklar und mehrdeutig gebrandmarkt worden sind.
Lösungsansätze in der BU‑Versicherung
Der begrifflichen Unschärfe Rechnung tragend, sind einige Versicherer dazu übergegangen, in ihren Antragsformularen die Fragen nach dem Einkommen mit Blick auf die maximal abzusichernde Versicherungsleistung verständlicher und zielgerichteter auszugestalten.
So wird etwa zwischen Angestellten und Selbstständigen unterschieden und analog zum Steuerrecht nach verschiedenen Einkunftsarten differenziert. Bei Selbstständigen wird dann etwa auf den Gewinn aus Gewerbebetrieb oder auf Einkünfte aus selbstständiger Tätigkeit rekurriert, ergänzt um den Abzug von Betriebsausgaben.
Damit werden ähnliche (Rechen‑)Schritte gegangen, wie sie auch Sauer im Bereich der KTG‑Versicherung vorschlägt.
Bei der Regelung der Umorganisation wird in neueren Bedingungswerken darauf abgestellt, dass entsprechende Maßnahmen „betrieblich sinnvoll“ sein und die „Lebensstellung“ der versicherten Person gewahrt werden müssen. Der Rückgriff auf ein Brutto- oder Nettoeinkommen wird so konsequent vermieden, wenngleich ein Bezug zu den konkreten Einkommensverhältnissen diesen Merkmalen immanent ist, denn mit der „Lebensstellung“ ist auch die finanzielle Lebensstellung gemeint, die sich nicht zuletzt im Einkommen ausdrückt.
Ob die genannten Kriterien ihrerseits „sinnvolle“ Tatbestandsmerkmale darstellen, wäre einer eigenen Untersuchung würdig; hier soll positiv herausgestellt werden, dass Unklarheiten des Einkommensbegriffes jedenfalls kreativ vermieden werden können.
Fazit
Das Nettoeinkommen ist Tatbestandsmerkmal in der KTG‑Versicherung, aber nicht in der BU‑Versicherung. Dass entsprechende Klauseln wegen der Verwendung unklarer Einkommensbegriffe als intransparent verworfen werden müssen, steht bei der BU‑Versicherung daher nicht zu befürchten. In der BU‑Versicherung werden bei Antragstellung mitunter Einkommensverhältnisse erfragt, die teilweise in Brutto- und teilweise in Nettoangaben beantwortet werden müssen. Das ist zulässig. Die Antragsfragen müssen trotz gewisser Unschärfen wahrheitsgemäß beantwortet werden.
Eine Differenzierung der in Antragsfragen verwendeten Begrifflichkeiten – je nachdem, ob die antragstellende Person angestellt oder selbstständig beruflich tätig ist – erscheint uns auch in der BU‑Versicherung begrüßenswert.
Endnoten
- Dr. Markus Sauer: „Krankentagegeld und Nettoeinkommen – ein neues Kapitel. Zugleich Anmerkung zum Urteil des BGH vom 06.07.2016 (IV ZR 44/15), VersR 2016, 1177“; VersR 2016, 1160.
- OLG Karlsruhe, Urteil vom 03.04.2008, Aktenzeichen 12 U 151/07.
- OLG Köln, Urteil vom 31.03.2004, Aktenzeichen 5 U 64/03.
- BGH, Urteil vom 06.07.2016, Aktenzeichen IV ZR 44/15.
- Sauer, VersR 2016, 1160.
- OLG Köln, Beschluss vom 14.06.2007, Aktenzeichen 5 U 28/07.