Vorgeschichte
Ein 49‑jähriger, lediger und allein lebender Fleischergeselle schloss im Frühjahr 2017 einen Vertrag zur Absicherung bei Verlust verschiedener Grundfähigkeiten ab. Der Versicherer versprach im Leistungsfall eine monatliche Rente in Höhe von 1.500 €. Bei Antragstellung gab der Versicherte eine verkürzte Gesundheitserklärung ab und erklärte, an keinen relevanten Vorerkrankungen zu leiden.
Schon im Herbst 2019 machte er dann Leistungsansprüche geltend und trug vor, die Grundfähigkeiten „Treppen steigen“, „Heben und Tragen“, „Gehen“, „Stehen“, „Knien“ und „Bücken“ verloren zu haben.
Medizinisch begründete der Versicherte seinen Anspruch damit, dass er zwischenzeitlich drei Bandscheibenvorfälle erlitten habe und im Frühjahr 2019 sogar eine Versteifungsoperation durchführen lassen musste. Er habe seither beim Gehen und Laufen sowie beim Anziehen erhebliche Schwierigkeiten. Insbesondere das rechte Bein sei taub und von „Stromschlägen und unwillkürlichen Krämpfen“ betroffen. Im Übrigen müsse er wegen Sturzgefahr durchweg Gehhilfen benutzen.
Leistungsprüfung des Versicherers
Da es sich um einen „Frühschaden“ handelte, konzentrierte sich der Versicherer verständlicherweise zunächst auf die Klärung des vorvertraglichen Sachverhaltes und damit auf die Frage, ob der Versicherte seiner vorvertraglichen Anzeigepflicht nachgekommen war. Aus vom Versicherten selbst übersandten Unterlagen ging hervor, dass er schon Jahre vor Antragstellung an Rückenbeschwerden litt. Zudem bestand vorvertraglich bei ihm – wenn auch nicht durchgehend – eine seelische Erkrankung, er wurde auf beiden Augen mit Kunstlinsen versorgt und wegen einer Schuppenflechte ärztlich behandelt.
Eine Falschbeantwortung einer Antragsfrage konnte der Versicherer gleichwohl nicht feststellen, da hierfür u. a. Voraussetzung gewesen wäre, dass der Versicherte innerhalb der letzten drei Jahre vor Antragstellung wegen der gleichen Erkrankung mehr als dreimal von einem Arzt beraten, untersucht oder behandelt hätte sein müssen.
Ermitteln ließ sich allerdings lediglich, dass er wegen der seit einem guten Jahrzehnt bestehenden Rückenbeschwerden insgesamt nur zweimal im frageerheblichen Zeitraum in Behandlung war und dass hinsichtlich der Schuppenflechte seit ebenfalls mehr als einem Jahrzehnt zwischenzeitlich nur eine „Eigentherapie“ mit freiverkäuflichen äußerlichen Anwendungen erfolgte. Zudem kam der Versicherer zu der Erkenntnis, dass der Versicherte wegen einer seit 2013 bestehenden Zwangsstörung ausschließlich von einem Psychologen (der formell kein Arzt war/ist) betreut wurde.
Bezüglich einer weiteren psychischen Störung, eines Abhängigkeitssyndroms, welches mit einer Fettleber verbunden war, ergaben sich lediglich Hinweise darauf, dass eine stationäre Behandlung im Jahre 2006 – also außerhalb des Abfragezeitraums – stattgefunden hatte. Weitergehende Informationen lagen dem Versicherer nicht vor.
Zwischenergebnis 1: Mangels feststellbarer Falschbeantwortung einer Antragsfrage konnte der Versicherer keine Gestaltungsrechte erklären.
Nächster Prüfungsschritt: Hat der Versicherte Grundfähigkeiten verloren? Zur Frage eines Grundfähigkeitsverlustes übersandte der Versicherte eine ausführliche und detaillierte Stellungnahme seines Hausarztes, einem Facharzt für Allgemeinmedizin. Dieser Arzt beschrieb auf der Basis von ihm erhobener Befunde sowie unter Zuhilfenahme ihm vorliegender Berichte eines Facharztes für Orthopädie, dass der Versicherte nach seiner Meinung nicht nur die Grundfähigkeiten „Treppen steigen“, „Heben und Tragen“, „Gehen“, „Stehen“ sowie „Knien“ und „Bücken“ verloren habe, sondern dass dieser sogar voll erwerbsgemindert sei.
Aus orthopädischer Sicht bestand dabei ein Zustand nach Dekompression und TLIF1-Spondylodese LWK 2 bis 4.
Nicht erkennbar für den Versicherer war aus dem ausführlichen Attest des Hausarztes allerdings, warum die genannten Grundfähigkeiten verloren sein sollten. Überdies hatte der Versicherer in seinen Bedingungen dem Versicherten als Obliegenheit aufgegeben, dass ein Verlustnachweis durch die Stellungnahme eines Facharztes für Orthopädie unter Angabe der Ursachen und des Ausmaßes der Einschränkungen zu erfolgen habe.
Zunächst stellte sich damit für den Versicherer die grundsätzliche Frage, ob die Einschätzung eines Facharztes für Allgemeinmedizin, welcher sich wiederum – zumindest zum Teil – den schriftlichen Ausführungen eines Facharztes für Orthopädie bedient, der vorgenannten bedingungsgemäßen Anforderung entspricht. Der Versicherer verneinte dies und bat den Versicherten unter Hinweis auf die Bedingungen, einen fachärztlichen Bericht einzureichen.
Das Formular des Versicherers wies unter anderem die Definitionen der möglicherweise verlorenen Grundfähigkeiten auf. Der Orthopäde bestätigte wiederum mit ausführlicher Begründung, dass auch er den Versicherten zumindest temporär als erwerbsunfähig betrachte. Allerdings kam er auch zu dem Schluss, dass keine der genannten Grundfähigkeiten verloren sei.
Zwischenergebnis 2: Aufgrund dieser Stellungnahme sah sich der Versicherer dann folgerichtig gezwungen, den Leistungsantrag des Versicherten abzulehnen, da die bedingungsgemäßen Voraussetzungen eines Leistungsfalles nicht gegeben waren.
Und nun? Der zwischenzeitlich seitens der Deutschen Rentenversicherung als zumindest teilweise erwerbsgemindert eingestufte Versicherte war mit der Entscheidung nicht einverstanden und wandte sich erneut an den Versicherer. Die orthopädische Bewertung habe außer Acht gelassen, dass ihm die Lähmungserscheinungen in seinem rechten Bein vor allem das Gehen im bedingungsgemäßen geforderten Umfang (200 Meter in 10 Minuten) nicht mehr ermöglichen würden.
Zum Beleg seiner Ausführungen übersandte der Versicherte ein aktuelles Attest seines Neurologen. Diesem war zu entnehmen, dass auch der Facharzt für Neurologie den Versicherten für erwerbsgemindert erachte. Zudem gab der Behandler an, dass der Versicherte nicht in der Lage sei, eine Wegstrecke von 200 Meter zu Fuß zurückzulegen. Der im Attest aufgeführte neulogische Befund ergab Folgendes: Motorik und Sensibilität der unteren Extremitäten gestört, Lasègue rechts 50°,2 Außenrotation beidseits schmerzhaft in den Hüftgelenken. Subjektiv ausstrahlende Schmerzen rechts, regelmäßig Krämpfe in beiden Füßen.
Diesmal verzichtete der Versicherer auf die Klärung der Fragestellung, ob durch das Attest eines Facharztes für Neurologie die bereits erwähnte bedingungsgemäße Obliegenheit erfüllt war oder nicht, und forderte den Versicherten auf, sich bei einem von ihm ausgewählten Facharzt für Orthopädie untersuchen zu lassen. Der Versicherte lehnte eine solche Untersuchung zunächst mit dem Hinweis ab, dass er aus gesundheitlichen Gründen die Anreise (27 km) zu dem ausgewählten Arzt nicht bewerkstelligen könne. Nachdem der Versicherer dem Versicherten hierauf anbot, dass die Anfahrt auf Kosten des Versicherers mit einem Taxi erfolgen könnte, kam der Versicherte dem Wunsch des Versicherers nach und ließ sich untersuchen.
Der beauftragte Orthopäde kam nach eingehender Befunderhebung, die eine neurologische Zusatzuntersuchung umfasste, zu dem Ergebnis, dass letztlich keine der genannten Grundfähigkeiten verloren war.
Der Stellungnahme des Orthopäden war dabei auch zu entnehmen, dass der Versicherte auf die Frage zu seinem üblichen Tagesablauf u. a. angab, dass er gerne mit seinem Hund spazieren gehe und soweit möglich Arbeiten im eigenen Garten verrichte. Zudem entgegnete er auf Befragen, dass er sich selbst versorge, was auch das Einkaufen, Waschen und die allgemeine Haushaltsführung beträfe.
Angesichts der ergänzenden Unterlagen lehnte der Versicherer den Leistungsantrag des Versicherten erneut ab.
(Vorläufiges) Ende der Geschichte
Der Versicherte beschwerte sich nach der erneuten Ablehnung seiner geltend gemachten Ansprüche und verlangte weiterhin eine Zahlung der versprochenen Rente. Der Versicherer beließ es nicht dabei, den Versicherten darauf hinzuweisen, dass er sich selbstverständlich bei Vorliegen neuer medizinischer Informationen der Sache erneut annehmen würde, sondern kontaktierte den Versicherten telefonisch und erläuterte nochmals den Hintergrund seiner Entscheidung im Rahmen eines Gespräches.
Soweit bekannt, akzeptierte der Versicherte darauf die Entscheidung des Versicherers und verzichtete (zumindest bisher) auf die Weiterverfolgung seiner potenziellen Ansprüche.
Was kann man aus diesem Fall lernen?
- Verkürzte Gesundheitserklärungen stellen sich aus vertrieblicher Sicht gerade im Kontext der Absicherung von Grundfähigkeiten sicherlich als relevante Verkaufsbedingungen dar. Überdies scheinen weniger umfangreiche Fragestellungen bei diesem Produkt jedenfalls insoweit gerechtfertigt, als dass diverse Vorerkrankungen für die Grundfähigkeitsabsicherung keine oder nur eine völlig untergeordnete Rolle spielen.
- Allerdings bedeuten solche, meist „überschaubaren“ Fragenkataloge für die Wirklichkeit der Leistungsprüfung häufig erhebliche Herausforderungen und dies selbst in Fällen, in denen langjährige und ganz erhebliche Krankenvorgeschichten bestehen. Hier gilt es bei entsprechenden Verdachtsmomenten den vorvertraglichen Sachverhalt – selbstverständlich unter Beachtung des konkreten Inhalts der Antragsfragen, deren Reichweite sowie dem Abfragezeitraum – datenschutzkonform zu klären. Die Grenzen solcher Ermittlungen hatte der Bundesgerichtshof3 noch zuletzt ausführlich dargelegt und darauf hingewiesen, dass der Versicherte selbst dann, wenn keine konkreten Verdachtsmomente bestehen, bei der Sachverhaltsermittlung mitwirken muss.
- Soweit im Rahmen der Prüfung des Verlustes von Grundfähigkeiten Arztfragebögen genutzt werden, sollten diese den jeweiligen Ärzten anhand der Bedingungen so konkret wie möglich aufzeigen, was medizinisch festzustellen ist. D. h., hier sollten möglichst nachvollziehbare Vorgaben gemacht werden, woran sich der Arzt bei seiner Bewertung ausrichten soll. Als Beispiel sei hier genannt, dass für die Prüfung der Frage, ob eine „Flasche noch auf- und wieder zugedreht werden kann“, sofern es denn darauf ankommt, eine handelsübliche 1‑Liter-PET-Wasserflasche verwendet werden sollte. Hintergrund ist dabei der, dass es sich hier um die statistisch meistverkaufte Flasche in Deutschland handelt, sodass damit zumindest gewährleistet ist, dass der Prüfung ein Gegenstand zugrunde gelegt wird, der als allgemein akzeptiert betrachtet werden kann.
- Wichtig erscheint ebenfalls, dass bei der Verwendung von Arztfragebögen die Ärzte schon über entsprechende Kenntlichmachungen im Fragenkatalog gebeten werden sollten, ihre Einschätzungen mit nachvollziehbaren Begründungen zu versehen.
- Soweit in den Bedingungen eine Obliegenheit vereinbart ist, dass zur Begründung potenzieller Ansprüche ausschließlich Auskünfte von Fachärzten der betreffenden Fachrichtung einzureichen sind, ist es nach Auffassung der Rechtsprechung4 möglich, dass sich ein Versicherer hierauf konkret berufen kann. In einem solchen Fall entfiele im Zweifel bei Nichtbeachtung der Obliegenheiten die Fälligkeit potenzieller Ansprüche.
- Auch bei Grundfähigkeitsabsicherungen kann dem „außermedizinischen“ Sachverhalt eine Bedeutung zukommen, insbesondere dann, wenn Fertigkeiten, die im alltäglichen Leben benötigt werden, mit abgesicherten Grundfähigkeiten korrespondieren. D. h., wenn die Grundfähigkeit „Heben und Tragen“ verloren sein soll, liegt es nahe, dass bspw. das Einkaufen von Lebensmitteln etc. auch nicht mehr geleistet werden kann.
- In Fällen, in denen eigene Begutachtungen in Auftrag gegeben werden müssen, sollten dem Gutachter die in Rede stehenden einzelnen Grundfähigkeiten und deren Voraussetzungen so ausführlich wie möglich dargelegt werden. Auch sollten konkrete Vorgaben gemacht werden, welche „Testobjekte“ zu nutzen sind (bspw. welche Art Wasserhahn, Flasche, Rohrzange o. Ä.). Bei bestimmten Grundfähigkeiten, bspw. „Heben und Tragen“ oder aber auch „Gehen“, kann in passenden Sachverhaltskonstellationen auch über EFL-Testungen5 oder speziell für das Gehen über einen Test mittels einer videogestützten Ganganalyse o. Ä. nachgedacht werden.
Gerne helfen wir Ihnen bei Fragen zur Regulierung von Grundfähigkeitsfällen. Sprechen Sie uns einfach an.