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Wie wird man, wer man ist? Wege und Möglichkeiten der Geschlechts­angleichung

Dr. med. Sascha Veiz Christian Wellenbrock, FEBOPRAS D. A. L. M. (guest contributor)

Deutsch

DIVERSITÄT IST UNS WICHTIG

Sie ist Bestandteil unserer Unternehmenskultur. Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit verzichten wir in den Beiträgen auf genderspezifische Schreibweisen. Die gewählte männliche Form schließt zugleich weibliche, männliche und diverse Personen ohne Wertung mit ein.

Ein Beitrag von Annika Schilling, Life & Health Research and Development, Gen Re, Köln

Transidentität in der Risiko­prüfung – alles anders, oder?

Die Anzahl offen transidenter Menschen nimmt weltweit und auch in Deutschland zu, wie im vorstehenden Artikel dargestellt. Daher ist nicht überraschend, dass auch Lebens­versicherungen zwar immer noch vereinzelt, aber häufiger als in früheren Jahren Anträge auf Versicherungs­schutz von transidenten Menschen erhalten. Dabei handelt es sich um Antrag­stellende in allen möglichen Phasen ihrer Geschlechts­angleichung – vor, während und nach medizinischen Eingriffen und der Personen­stands­änderung. Für Risiko­prüfende stellen diese Fälle weiterhin eine Ausnahme dar, und die Sensibilität des Themas führt zuweilen zu Unsicher­heiten im Umgang damit. Um es vorwegzunehmen: Eigentlich unterscheidet sich die Risiko­prüfung eines transidenten Menschen nicht substanziell von der eines cisgeschlecht­lichen Menschen.

Ganz allgemein gilt für die Risiko­prüfung, dass eine Erschwerung nur dann in Betracht kommt, wenn eine antrag­stellende Person – aufgrund Krankheit, Lebensstil, Beruf etc. – ein erhöhtes Risiko aufweist, das durch geeignete Evidenz belegt ist. Und die Erschwerung muss proportional sein zur festgestellten Risiko­erhöhung. Dies alles gilt in besonderem Maße dann, wenn eine Differen­zierung erfolgt aufgrund eines Faktors, der unter dem besonderen Schutz des Allgemeinen Gleich­behandlungs­gesetzes steht, z. B. Behinderung, Alter, aber auch sexuelle Identität und Geschlecht.

Für die Transidentität gilt: Die Zeiten, in denen Transidentität als Krankheit galt und illegal war, sind glücklicherweise – jedenfalls in weiten Teilen der Welt, so insbesondere auch in Deutschland – lange vorbei. Stattdessen stehen transidente Menschen heute für gewöhnlich unter besonderem gesetzlichen Schutz vor Diskriminierung.

Unabhängig von der gesetzlichen Einordnung ist aber auch festzuhalten: Die Transidentität als solche erhöht keine biometrischen Risiken, wie sie von Lebens­versichernden übernommen werden. Das heißt, eine Erschwerung für die Transidentität als solche wäre – selbst wenn zulässig – schon gar nicht medizinisch geboten.

Gleichzeitig können Transpersonen natürlich – ebenso wie cisgeschlecht­liche Menschen – von vielfältigen Erkrankungen betroffen sein. Diese Erkrankungen sind in der Risiko­prüfung ebenso zu berücksichtigen wie bei anderen Antrag­stellenden. Das gilt insbesondere auch dann, wenn sich in der medizinischen Vorgeschichte Krankheiten finden, die nicht zum offiziellen, durch Personen­stands­änderung und ggf. medizinische Geschlechts­angleichung erlangten Geschlecht bei Antrag­stellung zu „passen“ scheinen, z. B. Prostatakrebs bei einer Transfrau.

Nicht anders ist es bei psychischen Erkrankungen. Zunächst einmal können transidente Menschen – wie alle anderen Menschen auch – im Laufe ihres Lebens von einer Vielzahl psychischer Erkrankungen und Störungen betroffen sein. Einige dieser Erkrankungen können – müssen aber nicht – in ihrer Entstehung durch die Besonderheit der Transidentität begünstigt sein. Die Prävalenz psychischer Erkrankungen ist unter transidenten Menschen höher als in der Allgemein­bevölkerung.18,19,20

Es ist davon auszugehen, dass Faktoren wie die immer noch zu beobachtende Stigmatisierung, aber auch die persönliche Auseinander­setzung mit der Transidentität, der Entscheidung über geschlechts­angleichende Maßnahmen usw. jedenfalls vorübergehend eine mentale Belastung darstellen. Aber auch hier gilt: Die Depression einer transidenten Person ist immer noch eine Depression mit den bekannten Symptomen, Risiken und Behandlungs­möglichkeiten. Daher können und sollen auch hier die üblichen Einschätzungs­richtlinien zur Anwendung kommen.

In der Risiko­prüfung zu beachten sind darüber hinaus diejenigen Risiken, die mit der medizinischen – chirurgischen und/oder medikamentösen – Geschlechts­angleichung einhergehen:

  • Operationen, wie z. B. eine Mastektomie, gehen mit einem Risiko chirurgischer Komplikationen und Spätfolgen einher, die vollkommen unabhängig sind von der OP‑Indikation, aber abhängig z. B. vom allgemeinen Gesundheits­zustand des Antrag­stellenden. Daher sollte der Antrag jedes Antrag­stellenden, der eine solche Prozedur vor sich hat, bis zum erfolgreichen Abschluss zurückgestellt werden.
  • Auch bei einer Hormon­therapie ist – unabhängig von ihrer Indikation – immer mit Risiken und Neben­wirkungen zu rechnen. Diese sind in der Risiko­prüfung zu berücksichtigen und können eine Erschwerung in Form eines Risiko­zuschlags rechtfertigen.

Entscheidend ist in diesen Fällen, dass der Anknüpfungs­punkt für die Risiko­prüfung die jeweilige medizinische Maßnahme ist, d. h. nicht die dahinter stehende Transidentität. Dies sollte auch in der in Kommunikation mit dem Antrag­stellenden beachtet werden.

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