Die fiktiven Fälle dieses Artikels dienen ausschließlich zu Bildungszwecken. Sie veranschaulichen die Bandbreite möglicher Antragstellenden, denen man im Rahmen der Risikoprüfung begegnen kann. Ein möglicher Bezug zu wahren Personen ist rein zufälliger Natur.
Die Risikoprüfung bei Kindern folgt eigenen Gesetzen. Anders als bei Erwachsenen erfordert sie ein besonders differenziertes Vorgehen – nicht nur wegen der abweichenden Deckungselemente, Leistungsauslöser und Produktspezifikationen, sondern vor allem aufgrund von individuellen Entwicklungsgeschichten.
Entwicklungsverzögerungen, Lernstörungen oder frühe Anzeichen psychischer Belastungen verlangen von Risikoprüfenden ein sensibles Gespür dafür, was vorübergehende Phasen sind und was auf eine dauerhafte Beeinträchtigung hinweisen könnte. Einträge im U‑Heft, die im späteren Lebensverlauf an Bedeutung verlieren, dürfen nicht überbewertet werden. Zugleich erfordert der Umgang mit Diagnosen wie Depressionen oder Angststörungen besondere Aufmerksamkeit, da deren Bewertung im Kindesalter anderen Maßstäben unterliegt als bei Erwachsenen.
Verbreitung von Entwicklungs‑, Lern- und psychischen Störungen
Sprachentwicklungsstörungen (SES) betreffen rund 7 %1 der Kinder im Vorschulalter. Während etwa ein Drittel der Zweijährigen als sogenannte „späte Sprecher“ gilt, entwickelt sich die Sprachkompetenz bei vielen Kindern ohne langfristige Auffälligkeiten weiter. Eine verzögerte Sprachentwicklung ist somit nicht automatisch mit einer SES in engerem Sinne gleichzusetzen. Logopädische Interventionen und differenzialdiagnostische Abklärungen spielen eine zentrale Rolle – oft mit guter Prognose.
Motorische Entwicklungsstörungen nehmen hingegen seit Jahren deutlich zu. Daten der Kaufmännischen Krankenkasse zeigen einen Anstieg um 64 %2 bei 6‑ bis 18‑Jährigen zwischen 2008 und 2023. Ein wesentlicher Einflussfaktor ist der Mangel an Bewegung im Alltag, der eine gesunde Entwicklung von Fein- und Grobmotorik erschweren kann.
Auch Dyslexie (eine Störung der Lese- und Rechtschreibfähigkeit) wird inzwischen von Fachleuten zunehmend als neurobiologische Entwicklungsstörung statt als reine Lernschwäche betrachtet. Studien belegen, dass das Gehirn geschriebene Sprache anders verarbeitet und Buchstaben sowie Wörter nicht automatisch als Einheiten erkennt. Im Gegensatz dazu lassen sich Lernstörungen wie die Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) oftmals durch gezieltes Training verbessern. In Deutschland betrifft LRS etwa 5 %3 der Kinder, wobei zwischen isolierter Lese- oder Rechtschreibstörung und kombinierter Form unterschieden werden muss.
Hinzu kommt: Rechenschwächen und Leseprobleme treten häufig gemeinsam auf. Studien zufolge zeigen 30‑40 %4 der Kinder mit Rechenschwäche auch Leseschwierigkeiten – und umgekehrt. Diese Überschneidungen weisen darauf hin, dass kognitive Entwicklungsbereiche oft miteinander verwoben sind.
Bereits im Kindesalter zeigen sich vermehrt psychische Auffälligkeiten – besonders häufig handelt es sich um Depressionen, Angststörungen oder Essstörungen. Dabei wirkte die Pandemie wie ein Katalysator. Der Anteil stationär behandelter Kinder mit Angststörungen stieg signifikant und liegt laut der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie bis heute über dem Vor-Corona-Niveau. Ebenso verzeichnete die stationäre Aufnahme von Kindern mit Magersucht zwischen 2019 und 2023 einen Zuwachs von 42 %.5
Auffälligkeiten und Abweichungen – wann wird aus einer Verzögerung eine Störung?
Die kindliche Entwicklung verläuft nicht immer linear und nicht jedes verzögerte Verhalten ist automatisch pathologisch. Sprachliche, motorische, soziale oder kognitive Auffälligkeiten können sich im Einzelfall als vorübergehende Entwicklungsschritte herausstellen oder auf tieferliegende Schwierigkeiten hinweisen.
So kann es etwa in der Sprachentwicklung zu Verzögerungen beim Sprechen, Verstehen oder Anwenden kommen. Auch in der Fein- und Grobmotorik lassen sich Auffälligkeiten beobachten – etwa beim Greifen, Balancieren oder Werfen. Weitere Entwicklungsbereiche betreffen die soziale Interaktion (z. B. Freundschaften aufbauen) sowie die kognitive Leistungsfähigkeit wie logisches Denken oder Problemlöseverhalten.
Zeigt ein Kind in einem oder mehreren dieser Bereiche deutliche Abweichungen, stellt sich zunächst die Frage: Handelt es sich um eine einmalige Auffälligkeit – oder um eine stabile, längerfristige Abweichung vom typischen Entwicklungsverlauf?
Manche Kinder entwickeln bestimmte Fähigkeiten langsamer, etwa im Bereich des mathematischen Denkens oder in der Konzentrationsfähigkeit. Solche Unterschiede können jedoch temporärer Natur sein und fallen nicht immer außerhalb des Normrahmens. Langfristige Auffälligkeiten hingegen bestehen über einen längeren Zeitraum und betreffen meist mehrere Entwicklungsbereiche gleichzeitig.
Gerade deshalb ist es entscheidend, dass die U‑Untersuchungen sorgfältig dokumentiert werden, denn sie bieten eine wertvolle Grundlage für Verlaufseinschätzungen. Zeigen Eltern, Erziehende oder Lehrkräfte Auffälligkeiten auf, beginnt ein mehrstufiger Abklärungsprozess, bevor eine gesicherte Diagnose gestellt werden kann.
Im Mittelpunkt steht zunächst das Anamnesegespräch mit Eltern oder Bezugspersonen. Hier geht es um frühkindliche Entwicklung, familiäre Hintergründe sowie aktuelle Beobachtungen. Ergänzend erfolgen direkte Beobachtungen des Kindes – sei es beim Spiel, in der Kita oder zu Hause – durch qualifizierte Fachkräfte. Diese sind besonders aufschlussreich, wenn das Verhalten im sozialen oder schulischen Kontext auffällt.
Zur objektiven Einschätzung kommen standardisierte Fragebögen und Tests zum Einsatz. Diese erfassen Fähigkeiten und Verhalten in den Bereichen Kognition, Sprache, Motorik und soziale Interaktion. Auf dieser Basis lässt sich die individuelle Entwicklung mit normativen Alterswerten vergleichen. Ergänzend liefern psychologische Testungen Hinweise auf Intelligenz, Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Wahrnehmung.
Eine Diagnose wird nicht leichtfertig gestellt. Sie basiert auf festgelegten Kriterien, wie sie im DSM‑5 oder ICD‑10/11 definiert sind, sowie auf einem Abgleich mit altersentsprechenden Normwerten. Die abschließende Bewertung erfolgt durch ein interdisziplinäres Team, bestehend aus Kinderärztinnen und ‑ärzten sowie Psychologinnen und Psychologen, die die Ergebnisse gemeinsam besprechen und bewerten.