Lebens- und Krankenversicherer sind darauf bedacht, bei der Antragstellung möglichst wenig Fragen zu stellen, um den Prozess zu vereinfachen und zu beschleunigen. Zu den neuen Verfahren, die derzeit getestet werden, um den Gesundheitsstatus eines Antragstellers leichter bestimmen zu können, gehört die sogenannte Epigenetik.
Die Epigenetik ist ein sich rasant weiterentwickelndes Teilgebiet der Molekularbiologie und erforscht den Einfluss äußerer Faktoren auf die Genexpression. Epigenetik ist jedoch nicht dasselbe wie Genetik. Die Epigenetik beschreibt reversible und vererbbare Prozesse, die die Genfunktion steuern, ohne die primäre DNA-Sequenz zu verändern.1
Die Genetik dagegen ist die Lehre von den vererbbaren Eigenschaften, die in der DNA eines Menschen kodiert sind. Anders als Gene können sich epigenetische Strukturen unter dem Einfluss verschiedenster äußerer Faktoren wie z. B. Rauchen im Laufe der Zeit reversibel verändern.2,3
Aus Sicht von Versicherungsunternehmen ist es interessant zu wissen, dass bestimmte epigenetische Markierungen anzeigen können, wie schnell eine Person altert und – davon abgeleitet – wie lange diese Person voraussichtlich gesund bleiben wird. Manche Risikofaktoren, die für die Risikoprüfung von Bedeutung sind, weisen Verbindungen zur Epigenetik auf, z. B. ein zu hoher BMI, Rauchen, Alkoholkonsum und sogar bestimmte Erkrankungen wie Typ‑2-Diabetes und Brustkrebs.
Doch lässt sich die versicherungstechnische Risikobewertung durch einen einfachen epigenetischen Speicheltest ersetzen? Mehrere Studien zeigen einen Zusammenhang zwischen epigenetischen Mechanismen wie z. B. verschiedenen DNA-Methylierungsmustern und bestimmten Aspekten des Lebensstils einer Person. Um jedoch zu entscheiden, ob epigenetische Tests für den Prozess der Risikobewertung hilfreich sind, müssen wir wissen, welche Risikofaktoren sich mithilfe der Epigenetik zuverlässig nachweisen lassen.
Alterung
Das Alter einer Person wird in Versicherungsanträgen standardmäßig abgefragt – epigenetische Analysen könnten jedoch bestimmte Fragen in Zukunft überflüssig machen. So lassen sich manche epigenetische Markierungen (z. B. DNAmGrimAge) nutzen, um das Alter eines Antragstellers auf Grundlage einer biologischen Probe vorherzusagen.4 Eine solche biologische Probe kann z. B. Speichel sein, denn dieser enthält ausreichend hochwertige DNA für die Bestimmung von DNAmGrimAge.5
Mithilfe verschiedener epigenetischer Uhren lassen sich das chronologische Alter (die seit der Geburt vergangene Zeit), das biologische Alter (der Zerfallszustand biologischer Funktionen) sowie eine beschleunigte Alterung (Differenz zwischen chronologischem und biologischem Alter) vorhersagen.6,7 Als Instrument für die Risikoprüfung ist der Einsatz epigenetischer Uhren jedoch nur beschränkt möglich, da man in laufenden klinischen Studien weiterhin darum bemüht ist, diese in Hinblick auf ihre Wirksamkeit, Effizienz, Skalierbarkeit und Kosten zu optimieren.8
Body Mass Index (BMI)
Fettleibigkeit gilt als eine der Hauptursachen für koronare Herzerkrankungen und Krebs. Eine Studie aus dem Jahr 2021 zeigt, dass Fettleibigkeit die DNA-Methylierung verändern kann und diese Veränderungen Entzündungsreaktionen und den Lipidstoffwechsel bei übergewichtigen Menschen beeinflussen können.9
In einer weiteren Studie wurde der Zusammenhang zwischen Fettleibigkeit und DNA-Methylierung bei 991 gesunden Probanden erforscht. Diese Studie zeigt die Bedeutung der Epigenetik als Mittel zur Feststellung von Fettleibigkeit und dem Risiko bestimmter Erkrankungen im Zusammenhang mit einem überhöhten BMI sowie potenziellen Folgen.10 Der Zusammenhang zwischen BMI und DNA-Methylierung ist gut erforscht und zeigt Relevanz für die Entstehung von kardiometabolischen Erkrankungen.11 Da sich bestimmte Methylierungsmuster im Zusammenhang mit Fettleibigkeit feststellen lassen, könnten diese Informationen für die Risikobewertung bei Antragstellern mit hohem BMI nützlich sein.
Rauchen
Studien zeigen, dass das Rauchen von Tabak zu weitreichenden epigenetischen Veränderungen in Form von veränderten DNA-Methylierungsmustern führt.12 So hat sich beispielsweise gezeigt, dass die Methylierung von cg05575921 (einer spezifischen CpG-Stelle) mit dem Rauchen abnimmt.13,14 Daher würde theoretisch die Identifizierung von Veränderungen in diesen mit dem Rauchen zusammenhängenden Genstellen auch auf den Raucherstatus einer Person hinweisen.
Wie bei anderen epigenetischen Veränderungen gilt auch hier: Die durch das Rauchen bedingte DNA-Methylierung ist reversibel. Tatsächlich kam eine Studie zu dem Ergebnis, dass der Methylierungsgrad der besagten Stellen fünf Jahre nach dem Rauchstopp kaum oder keine Unterschiede zwischen ehemaligen Rauchern und Personen, die nie geraucht haben, aufwies.15 Die alleinige Nutzung von epigenetischen Informationen kann somit zur Antiselektion führen, wenn ehemals starke Raucher nicht erkannt werden.
Wie oben ausgeführt, kann die DNA-Methylierung nach der Tabakentwöhnung wieder den Zustand von Personen erreichen, die nie geraucht haben. Dies hängt jedoch von der Dauer des Rauchstopps und den sogenannten Packungsjahren der ehemaligen Raucher ab.16 Zwar stellen einige Studien einen Zusammenhang zwischen der Rauchintensität und dem DNA-Methylierungsgrad her – diese Studien wurden jedoch hauptsächlich an Mäusen oder mit nur kleinen Proben von menschlicher DNA aus Vollblut oder Speichel-DNA durchgeführt. Daher müssen mehr Daten gesammelt werden, um größere Gewissheit zu haben, dass ein Zusammenhang zwischen epigenetischen Veränderungen der betreffenden Genstellen und Rauchen oder auch Dampfen besteht.17
Alkoholkonsum
Wenn es möglich wäre, mit einem einfachen epigenetischen Speicheltest früheres Suchtverhalten oder schweren Alkoholkonsum nachzuweisen, warum sollte ein solcher Test nicht auch für die Risikoprüfung genutzt werden? Tatsächlich zeigen mehrere Studien einen Zusammenhang zwischen bestimmten Mustern der DNA-Methylierung und Alkoholabhängigkeit.18,19
Es ist bekannt, dass bestimmte Veränderungen des Lebensstils geeignet wären, um die DNA-Methylierung zu verändern – und das wurde auch bei Alkoholkonsumenten beobachtet. Eine Studie von 2018 zeigte unter anderem, dass täglicher Sport bei Personen mit gefährlichem oder exzessivem Alkoholkonsum in der Lage war, die DNA-Methylierung positiv umzukehren, und somit eine Möglichkeit sein könnte, gewissen Folgen des Alkoholmissbrauches vorzubeugen.20
Typ‑2-Diabetes
Typ‑2-Diabetes ist eine weit verbreitete Komorbidität, die vor allem bei übergewichtigen Menschen auftritt. Er ist außerdem ursächlich für eine Vielzahl weiterer Erkrankungen wie z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen und wird in der Risikoprüfung sorgfältig bewertet. In einigen Studien konnten Unterschiede im epigenetischen Muster (d. h. der DNA-Methylierung und Genexpression) von Blutzellen, Skelettmuskulatur, Fettgewebe, der Leber und der Langerhans-Inseln bei Diabetespatienten im Vergleich zu Kontrollpersonen ohne Diabetes festgestellt werden.21
Es ist wichtig zu betonen, dass epigenetische Muster zell- und gewebespezifisch sind. Um einen Einblick in den diabetischen Status einer Person zu erlangen, werden daher epigenetische Proben aus dem krankheitsrelevanten Gewebe benötigt. Die Entnahme solcher gewebespezifischer Proben neben Blut oder Speichel für eine genauere Bestimmung des epigenetischen Musters für Krankheiten wie Typ‑2-Diabetes und Fettleibigkeit ist für Versicherungszwecke jedoch nicht sonderlich praktikabel.
Brustkrebs
Heutzutage werden unterschiedliche DNA-Methylierungsmuster zur Risikostratifikation bei Brustkrebs herangezogen; ein entsprechender Zusammenhang wurde in zahlreichen Studien erforscht.22 Die Trimethylierung des Lysins 27 am Histon 3 (H3K27me3) ist eine epigenetische Markierung, mit der sich das Überleben nach Krebs nachweislich vorhersagen lässt. Die Expression von H3K27me3 ist in Brustkrebsgewebe nachweislich deutlich geringer als in normalem Gewebe. Zudem wurde bei Personen mit Brustkrebs und einer geringeren Expression von H3K27me3 ein deutlich geringeres Gesamtüberleben als bei Personen mit einer höheren Expression festgestellt.23
Bei einem Vergleich der Methylierung von normalem Brustgewebe mit duktalen Carcinoma in situ und invasivem Karzinom der Brust, war die DNA-Methylierung in 5.000 Genen des in situ-Brustgewebes hochgradig verändert. Beim invasiven Brustkarzinom waren noch etwa 1.000 Gene verändert. Dies ist ein Hinweis darauf, dass die DNA-Methylierung selbst in den Anfangsstadien von Brustkrebs als Biomarker verwendet werden könnte.24
Es ist wichtig zu betonen, dass andere Metaanalysen keinen Zusammenhang zwischen bestimmten DNA-Methylierungsgraden und einem höheren Brustkrebsrisiko oder der Überlebensrate nach Brustkrebs festgestellt haben.25 Die wissenschaftlichen Ergebnisse sind also noch nicht eindeutig genug, um sagen zu können, ob Versicherer epigenetische Informationen heranziehen sollten, um das Überleben oder das Risiko von Brustkrebspatienten allein auf Grundlage epigenetischer Informationen vorherzusagen.
Gesellschaftliche und moralische Fragen
In der Epigenetik lässt sich anhand einer einfachen Speichel- oder Blutprobe ablesen, ob sich die Genexpression einer Person durch bestimmte alltägliche Gewohnheiten oder Umwelteinflüsse verändert hat. Um im Rahmen der Risikoprüfung die Gesundheit eines Antragstellers zu prüfen, benötigen wir für bestimmte Erkrankungen Laborwerte. Dabei steht von Anfang fest, welche Laborwerte erforderlich sind. Die Anwendung der Epigenetik könnte dazu führen, dass Antragsteller neue Informationen über ihre Gesundheit erhalten, die sie ansonsten nicht erfahren hätten und auch nicht unbedingt erfahren wollen. Auch gelangen Dritte in den Besitz von potenziell ungünstigen Informationen, die nicht öffentlich gemacht werden sollten; unerwartete epigenetische Informationen könnten dazu führen, dass betroffene Personen diskriminiert werden oder Schwierigkeiten haben, die ungünstigen Faktoren zu ignorieren.26
Wenn ein Test solche ungünstigen Faktoren offenlegt – wie sollen diese Informationen der betroffenen Person dann übermittelt werden? Können Versicherungsunternehmen diese bislang unbekannten Informationen nutzen, z. B. für die Risikoprüfung? Die Epigenetik steckt noch in den Kinderschuhen und es gibt noch viele Herausforderungen zu bewältigen. Die epigenetischen Mechanismen sind noch weitgehend unerforscht und es stellt weiterhin ein Problem dar, einzelne äußere Faktoren zu isolieren. Zudem beschränkt sich die Handvoll verfügbarer Studien auf eine kleine Anzahl von Probanden und bestimmte Populationen, was die statistische Aussagekraft der Ergebnisse negativ beeinflusst. Daher ist es entscheidend, dass die wissenschaftliche Zuverlässigkeit der Epigenetik weiter erforscht und ausgewertet wird, um sich ihrer Validität sicher zu sein – insbesondere wenn evidenzbasierte Informationen zur Epigenetik als solide Grundlage für Versicherungs- und Risikoprüfungszwecke herangezogen werden sollen.