Die Digitalisierung schreitet auch im Gesundheitswesen unaufhaltsam voran. Ein Teil dieses Digitalisierungsprozesses ist die (Fort-)Entwicklung der Telemedizin. Telemedizin ist nach der Definition der Bundesärztekammer ein Sammelbegriff für verschiedenartige ärztliche Versorgungskonzepte, die als Gemeinsamkeit den prinzipiellen Ansatz aufweisen, dass medizinische Leistungen der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung in den Bereichen Diagnostik, Therapie und Rehabilitation sowie bei der ärztlichen Entscheidungsberatung über räumliche Entfernungen (oder zeitlichen Versatz) hinweg erbracht werden. Hierbei werden Informations- und Kommunikationstechnologien eingesetzt.1 Ein eigenes Fachgebiet ist die Telemedizin nicht. Ihre Methoden kommen in einer Vielzahl von Fachgebieten zum Einsatz, sodass auch vom Einsatz telemedizinischer Methoden in der Gesundheitsversorgung gesprochen werden kann.
Die Änderung des Musterberufsordnung für Ärzte im Jahre 2018
Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Implementierung telemedizinischer Methoden in den ärztlichen Alltag stellt die jüngste Änderung der Musterberufsordnung für Ärzte2 (MBO-Ä), die auf dem 121. Ärztetag (08.–11.05.2018) in Erfurt verabschiedet wurde. Während zuvor das Dogma vom „offline first“ galt und die Gewährleistung eines unmittelbaren Arzt-Patienten-Kontakts gefordert hat, ist es durch die Änderung des § 7 Abs. 4 MBO-Ä zu einer Liberalisierung gekommen. Danach bleibt es im Grundsatz beim dem Gebot des persönlichen Kontakts:
„Ärztinnen und Ärzte beraten und behandeln Patientinnen und Patienten im persönlichen Kontakt. Sie können dabei Kommunikationsmedien unterstützend einsetzen […]“.
Im Einzelfall wird jedoch berufsrechtlich die ausschließlich telemedizinische Behandlung gestattet. Die Neuregelung lautet:
„Eine ausschließliche Beratung oder Behandlung über Kommunikationsmedien ist im Einzelfall erlaubt, wenn dies ärztlich vertretbar ist und die erforderliche ärztliche Sorgfalt insbesondere durch die Art und Weise der Befunderhebung, Beratung, Behandlung sowie Dokumentation gewahrt wird und die Patientin oder der Patient auch über die Besonderheiten der ausschließlichen Beratung und Behandlung über Kommunikationsmedien aufgeklärt wird.“
Abgestellt wird also nun auf eine Risikoabwägung im Einzelfall – das „Muss“ des direkten Arzt-Patienten-Kontakts entfällt, wenn dies unter Berücksichtigung ärztlicher Sorgfaltsregeln vertretbar ist.
Die Neuregelung ist nicht unmittelbar geltendes Recht, weil es sich bei der MBO-Ä nur um eine Regelungsmodell handelt, das der Umsetzung in dem jeweiligen Kammerbereich bedarf, um rechtsverbindlich zu werden. Der Modellcharakter der Regelung lässt aber erwarten, dass auf kürzere Sicht alle Ärztekammern eine vergleichbare Regelung verabschieden werden.
Auch haftungsrechtlich ist dieser Paradigmenwechsel nicht ohne Bedeutung. Während zuvor ein Verstoß gegen berufsrechtliche Vorgaben auch einen Verstoß gegen zivilrechtliche Sorgfaltspflichten implizierte (vgl. § 276 Abs. 2 BGB: „Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt.“), ist nun der Weg zu einer Einzelfallprüfung eröffnet.
Anwendungsfelder der Telemedizin
Die möglichen Anwendungsfelder der Telemedizin sind zahlreich. Wichtige Anwendungsfelder sind etwa3:
- Ferndiagnose: Diagnose für PatientInnen von einem entfernten Arzt (z. B. Telekardiologie)
- Telemonitoring: Fernüberwachung von PatientInnen, die sich nicht im Krankenhaus befindet (z. B. Fetalüberwachung)
- Fernbetreuung: Nutzung von Fernüberwachungsdaten, um PatientInnen aus der Ferne zu untersuchen (z. B. DiabetikerInnen)
- Telemedizin: Übertragung medizinischer Bilder zwischen Zentren der medizinischen Betreuung zur Ferndiagnose
- Home-Monitoring: Betreuungsleistungen im Haus der PatientInnen (z. B. ältere PatientInnen, DiabetikerInnen), „häusliche Betreuung“
- Telekonsultation: Fernzugriff zum Wissen oder zur Erfahrung eines Spezialisten (z. B. Teleradiologie)
Haftungsrechtliche Problemfelder
Für das Haftungsrecht bedeutet die Öffnung des Berufsrechts eine neue Dynamik in der Beurteilung. Ob ein haftungsbegründender Behandlungsfehler vorliegt, ist immer nach dem Standard des in Anspruch genommenen Fachgebietes zum Zeitpunkt der Behandlung zu bestimmen. Angesichts der Neuheit der Entwicklung wird es hier aber vielfach zurzeit noch schwierig sein, die Grenze zu ziehen, ob ein bestimmtes Vorgehen im Lichte der jüngsten Entwicklungen noch als fachgerecht angesehen werden kann oder ob es sich außerhalb des vertretbaren Rahmens bewegt. Hier wird es dringende Aufgabe der medizinischen Fachgesellschaften sein, die Anwendungsfelder der Telemedizin erstens für ihr Fachgebiet zu definieren und zweitens durch Stellungnahmen zu verdeutlichen, in welchen Fällen der Verzicht auf einen Arztkontakt zulässig ist.
Problematisch können gerade in der Übergangsphase solche Konstellationen sein, in denen das Berufsrecht der fachlichen Entwicklung „hinterherhinkt“. So ist es etwa denkbar, dass einerseits die oben beschriebene Öffnung des Berufsrechts noch nicht umgesetzt ist (so etwa Berufsordnung der Ärztekammer Nordrhein per 30.09.2019), andererseits jedoch eine Fachgesellschaft eine ausschließlich telemedizinische Behandlung bei einem bestimmten Krankheitsbild in einem bestimmten Stadium als zulässig erachtet. Es erscheint bei einer solchen Situation fraglich, einen Verstoß gegen die im Verkehr erforderliche Sorgfalt anzunehmen, der Konflikt mit dem Berufsrecht liegt jedoch auf der Hand.
Schwierigkeiten bei der haftungsrechtlichen Aufarbeitung können sich auch bei der Abgrenzung der Verantwortlichkeiten ergeben. So fehlt es gegenwärtig vielfach an einer klaren vertraglichen Gestaltung zwischen dem primären Leistungserbringer und einem sekundären (externen) Leistungserbringer, wer für welche Versäumnisse einzustehen hat (z. B. im Bereich der Teleradiologie). Auch ist in der Praxis zu beobachten, dass die Betriebshaftpflichtversicherungen diese Fragestellung nicht klar abbilden. Es besteht daher im Konfliktfall auch das Risiko von Deckungslücken. Es ist dringend zu empfehlen, die Tätigkeitsfelder der Telemedizin klar zu identifizieren und eine Klärung intern sowie im Deckungsverhältnis zum Versicherer herbeizuführen.
Auch ist insbesondere für Krankenhäuser ein Monitoring anzuraten, in dem laufend identifiziert wird, welche telemedizinische Leistungen erbracht werden und ob entsprechende vertragliche Regelung zur Abgrenzung der Verantwortungsbereiche existieren. Zusätzliche Probleme ergeben sich zudem, wenn ausländische Leistungserbringer in Anspruch genommen werden. Auch hier ist dringend eine Klärung der Verantwortlichen für den Schadenfall anzuraten.
Kategorisiert man die Haftungsrisiken, so lassen sich im Kern drei Fehlerbereiche identifizieren, in denen Vorsorge zu treffen ist:
- Organisation: Absicherung der Vollständigkeit und Rechtzeitigkeit der Datenübermittlung
- externes Vertragsmanagement: Klärung und Abgrenzung der Verantwortlichkeiten mit externem Leistungserbringer
- internes Vertragsmanagement: Klärung der ausreichenden Deckung, insbesondere im Hinblick auf die Fragestellung, ob das betreffende Risiko im Versicherungsvertrag erfasst ist
Telemedizin als „Neulandmethode“?
Neben der Haftung aus einem Behandlungsfehler ergeben sich im Rahmen der Telemedizin auch neue Fragestellungen für die Haftung aus einem Aufklärungsfehler. Gewisse Parallelen drängen sich insoweit zur Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH) auf, die dieser im Zusammenhang mit dem Einsatz von Neulandmethoden („Robodoc-Urteil“) entwickelt hat.4 Der BGH hat dort bekräftigt, dass die Auswahl der Behandlungsmethode in erster Linie Sache des Arztes ist. Kommt jedoch ein Neulandverfahren zum Einsatz, dann fordert es die Wahrung des Selbstbestimmungsrechts der PatientInnen, sie über alternative Behandlungsmöglichkeiten zu informieren, wenn für eine medizinisch sinnvolle und indizierte Therapie mehrere gleichwertige Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, die zu jeweils unterschiedlichen Belastungen führen oder unterschiedliche Risiken und Erfolgschancen bieten. Weiter hat der BGH ausgeführt, wenn der Arzt keine allseits anerkannte Standardmethode, sondern eine relativ neue und noch nicht allgemein eingeführte Methode mit neuen, noch nicht abschließend geklärten Risiken anwenden will, so hat er die PatientInnen nach der Rechtsprechung der Instanzgerichte auch darüber aufzuklären und darauf hinzuweisen, dass unbekannte Risiken derzeit nicht auszuschließen sind.
Ob diese Erwägungen auch für die Einsatz telemedizinischer Maßnahmen Anwendung finden, kann angesichts der Vielgestaltigkeit der denkbaren Einsatzmöglichkeiten der Telemedizin nicht generalisierend beantwortet werden. Es ist aber sicher denkbar, dass die in der Rechtsprechung angestellten Erwägungen im Einzelfall auch bei der Anwendung telemedizinischen Methoden zum Tragen kommen können, denn „Neuland“ wird sicher beim Einsatz telemedizinischer Verfahren beschritten.
Aufklärung der PatientInnen über Besonderheiten
Ferner ist beim Einsatz von Telemedizin auch die Sicherungsaufklärung bzw. die Verpflichtung zur therapeutischen Information im Blick zu behalten. Nach § 630 c Abs. 2 BGB ist der Behandelnde verpflichtet, den PatientInnen in verständlicher Weise sämtliche für die Behandlung wesentlichen Umstände zu erläutern. Das betrifft nicht nur die Diagnose und die Therapie, sondern auch und gerade die Maßnahmen, die zur Sicherung des angestrebten Behandlungserfolges geboten sind. Dies kann bei einem fehlenden unmittelbaren Arzt-Patienten-Kontakt vor allem die verschärfte Anweisung zur persönlichen Wiedervorstellung bedeuten, um die Risiken, die aus der fehlenden unmittelbaren Inaugenscheinnahme der PatientInnen resultieren, zu kompensieren. Diese Verpflichtung lässt auch aus der berufsrechtlichen Neuregelung des § 7 Abs. 4 MBO-Ä ableiten, denn zusätzlich ist dort die Verpflichtung vorgesehen, die PatientInnen „auch über die Besonderheiten der ausschließlichen Beratung und Behandlung über Kommunikationsmedien“ aufzuklären.
Fazit
Mit der Reform des § 7 Abs. 4 MBO-Ä ist das Tor zur weitergehenden Anwendung telemedizinischer Methoden weit aufgestoßen worden. Die Digitalisierung des Gesundheitswesens, die Spezialisierung, die Morbiditätsentwicklung und die demografische Entwicklung werden zu einer forcieren Anwendung der Telemedizin führen. Da der haftungsrechtliche Standard durch die Medizin selbst definiert wird, ist es die Aufgabe der medizinischen Fachgesellschaften, so bald wie möglich die Anwendungsfelder der Telemedizin zu definieren und den Rahmen zu bestimmen, in dem telemedizinische Maßnahmen ohne Verletzung der gebotenen Sorgfalt zur Anwendung kommen können. Haftungsrechtlich sind daneben klare vertragliche Absprachen zur Aufteilung der Verantwortlichkeit erforderlich, wenn externe Leistungserbringer in die Behandlung miteinbezogen werden. Intern müssen die Leistungserbringer sicherstellen, dass der Versicherer über die Tätigkeitsfelder frühzeitig informiert ist und dass der Stand des Versicherungsvertrages und sein Deckungsumfang die tatsächliche Entwicklung der Telemedizin bei dem Leistungserbringer vollständig widerspiegeln.
Endnoten
- https://www.bundesaerztekammer.de/aerzte/telematiktelemedizin/telemedizin/
- https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/MBO/MBO-AE.pdf – zuletzt geändert durch Beschluss des Vorstandes der Bundesärztekammer am 14.12.2018.
- https://www.dgtelemed.de/de/telemedizin/anwendungsbeispiele.php
- BGH, Urteil vom 13.6.2006, VI ZR 323/04.