Die Versicherung von Risiken der Petrochemie stellt die Versicherer oft vor große Herausforderungen. Solche Risiken weisen im Vergleich zu „normalen“ Industrierisiken einige Besonderheiten auf, die in diesem Artikel beleuchtet werden. Der Fokus liegt hierbei auf dem Downstream-Bereich.
Die chemische Industrie ist der fünftgrößte Wirtschaftszweig weltweit und trägt mit ca. 15 Millionen Beschäftigen ca. USD 1 Billion zum weltweiten Bruttoinlandsprodukt bei.1
Petrochemikalien werden überwiegend zur Herstellung von Produkten verwendet, die andere Industrien weiterverarbeiten, etwa zur Herstellung von Fahrzeugen, Flachbildschirmen, Verpackungen, Isoliermaterialien, Sonnenschutzmitteln oder Bekleidung. Somit ist die chemische Industrie mit nahezu allen Branchen – von der Automobil- und Elektroindustrie bis zur Bau-, Textil- oder Solarindustrie – über Lieferbeziehungen eng verbunden.
In der Vergangenheit hat es insbesondere aufgrund von Explosionen in petrochemischen Anlagen immer wieder sehr hohe Schäden gegeben. Hauptgründe für das enorme Schadenpotenzial sind komplexe Produktionsprozesse unter extremen Reaktionsbedingungen mit hochentzündlichen Edukten und Produkten in Verbindung mit sehr hohen Wertkonzentrationen.
Regelmäßig sind dabei Schäden durch Betriebsunterbrechung (BU) im Durchschnitt deutlich höher als der Sachschaden – insbesondere dann, wenn sich der Schaden an einer Anlage ereignet, die Zwischenprodukte für weitere Produktionsanlagen im Verbund herstellt.
Die aktuelle Marktsituation
Erstmals seit vielen Jahren gibt es seit einigen Monaten Anzeichen dafür, dass der Markt sich in diesem schwierigen Segment etwas erholt und das Ratenniveau moderat ansteigt. Dennoch agieren Versicherer nach wie vor in einem schwierigen Markt: Trotz hoher Schäden und schlechter Ergebnisse besteht in vielen Fällen ein Kapazitätsüberschuss, der die Preise drückt und eine nachhaltige Erholung des Ratenniveaus verhindert. Zwar wurden immer wieder Kapazitäten abgezogen, es erfolgte jedoch ein Ersatz durch neues Kapital.
Die im Jahr 2018 international theoretisch verfügbare Downstream-Marktkapazität der Versicherer wird auf USD 4 Mrd. (US-Markt) bis 7 Mrd. (internationale Märkte) geschätzt.2 Diese Kapazitäten sind aber in der Realität für einzelne Risiken nicht immer verfügbar.
In den letzten Jahren lagen die Schadenaufwendungen im Downstream-Bereich (s. detaillierter hierzu unten) fast immer über den Prämieneinnahmen. 2017 betrug der Schadenaufwand für Schäden oberhalb einer Million USD im Downstream-Bereich laut Willis Towers Watson (WTW) weltweit mehr als USD 6 Mrd.3 Trotz des enormen Ausmaßes dieser Schäden stagnieren die Prämien auf niedrigem Niveau – im Rekordschadensjahr 2017 schätzte WTW die globalen Prämieneinnahmen auf ca. USD 2,2 Mrd. Nach anderen Quellen lagen die globalen Prämien im Downstream-Bereich zwar höher, die Zahlen zeigen jedoch deutlich, dass es für Versicherer schwierig ist, in diesem Segment Geld zu verdienen.
Die Kernfrage ist somit, wie Versicherungsunternehmen in diesem hoch volatilen Segment mittel- und langfristig profitabel arbeiten können. Im Folgenden werden die Besonderheiten einiger Petrochemierisiken betrachtet.
Der Downstream-Bereich
In der Petrochemie bezeichnet man alle Produktionsstufen nach der Förderung und dem Transport des Rohöls als Downstream (downstream = stromabwärts, in Richtung Verbraucher). Der Downstream-Bereich beginnt in der Raffinerie und umfasst die Herstellung petrochemischer Produkte und Zwischenprodukte.
Ein Grund für die hohen Betriebsunterbrechungsschäden ist der hohe Vernetzungsgrad der Anlagen. Der Stillstand bestimmter Produktionsanlagen kann dazu führen, dass eine Reihe weiterer Anlagen ebenfalls abgeschaltet werden muss, da diesen die Zwischenprodukte aus der „Engpassanlage“ fehlen.
Der Naphtha-Cracker
Ein Beispiel für eine derart kritische Anlage ist der Naphtha-Cracker. Er bildet zumeist das Herzstück großer Chemiestandorte; zahlreiche Wertschöpfungsketten beginnen hier. Im Naphtha-Cracker wird das aus dem Rohöl destillierte Rohbenzin (Naphtha) aufgespalten (cracken = knacken, zerbrechen) – die langkettigen Kohlenwasserstoffe werden in wichtige Grundstoffe, insbesondere Ethylen und Propylen umgewandelt. Im Naphtha-Cracker herrschen drastische Reaktionsbedingungen. Die Spaltreaktion findet unter erhöhtem Druck bei Temperaturen von mehr als 800°C statt. Ein großer Cracker einschließlich Produktaufbereitung kann eine Fläche von mehreren 10.000 m² belegen, rund 2.000.000 t Naphtha im Jahr verarbeiten und einen Wert im hohen dreistelligen Millionenbereich haben.
Die wesentlichen Produkte des Crackers, Ethylen und Propylen, sind bei Normaldruck gasförmig und hochentzündlich. Beide Gase bilden in der Luft schon bei geringem Volumenanteil ein explosives Gemisch. Ethylen und Propylen gehören zu den wichtigsten Molekülen in der chemischen Industrie. Sie sind wichtige Vorprodukte für Kunststoffe, Lacke, Lösungs- und Pflanzenschutzmittel, Vitamine und viele andere Produkte.
Ein Ausfall des Crackers führt an großen Verbundstandorten dazu, dass eine Reihe weiterer Anlagen ebenfalls heruntergefahren werden muss. So können relativ kurze Ausfälle aufgrund der Wechselwirkungen zu hohen BU-Schäden führen.
Handelt es sich bei den Abnehmern um externe Kunden, so besteht ein Rückwirkungsschadenpotenzial, das in Einzelfällen im hohen dreistelligen Millionenbereich liegen kann. Für Versicherer ist es daher wichtig, diese Abhängigkeiten zu verstehen. Auch wenn Rückwirkungsschäden häufig durch ein Limit begrenzt sind, können mehrere Abnehmer oder Zulieferer durch den Stillstand einer Anlage betroffen sein.
Die Vapor Cloud-Explosion (VCE)
Der Begriff der Vapor-Cloud-Explosion ist für Versicherer, die in diesem Segment aktiv sind, von entscheidender Bedeutung, da dieses Ereignis oft als Höchstschadenszenario angesehen wird, auf dessen Basis dann auch Policen-Limits festgelegt werden.
Bei einer Vapor-Cloud-Explosion (VCE, „Dampfwolkenexplosion“) handelt es sich um das gefährlichste und zerstörerischste Schadenereignis in der petrochemischen Industrie. Grundsätzlich besteht bei allen Prozessen, bei denen mit brennbaren Gasen unter hohem Druck oder druckverflüssigten, überhitzten brennbaren Flüssigkeiten gearbeitet wird, potenziell die Gefahr einer VCE. Bei einer Leckage entweichen entzündliche Gase oder Dämpfe, die sich in der Umgebungsluft ausbreiten und ein explosionsfähiges Gemisch bilden. Auch über Flüssigkeiten mit hohem Dampfdruck, wie etwa Benzin, kann sich bei einer Freisetzung, z. B. durch Überfüllen eines Tanks, eine explosionsfähige Gaswolke bilden.
Trifft eine solche explosive Wolke auf eine Zündquelle, kommt es zu der verheerenden Explosion.
Bei einer VCE im Bereich des Naphtha-Crackers kann allein der Sachschaden im hohen dreistelligen Millionenbereich liegen. Hinzu kommen die Folgen der Betriebsunterbrechung: Steht der Cracker als Herzstück des Standorts monatelang still, können alle anderen Betriebe, die auf seine Produkte angewiesen sind, nicht weiterarbeiten. Die Verluste durch Betriebsunterbrechung können daher noch deutlich höher als der reine Sachschaden sein.
Die enorme Explosion des Buncefield Öl-Depots im Dezember 2005 hat die große Zerstörungskraft einer VCE aufgezeigt. Die Explosion, die einen Wert von 2,4 auf der Richter-Skala erreichte, ereignete sich, nachdem 250.000 l Benzin aus einem der beiden Tanks lief. Dies führte zu einer riesigen Dampfwolke, die sich entzündete. Dadurch kam es laut Medienberichten zum schlimmsten Feuer, das jemals in Europa in Friedenszeiten ausgebrochen ist. 43 Menschen wurden dabei verletzt, mehrere Häuser und Betriebe zerstört.4
Zur Berechnung der zu erwartenden Höchstschäden als Folge einer VCE, dem sog. VCE EML (EML = Estimated Maximum Loss), gibt es verschiedene Modelle. Bei allen Berechnungsmethoden hängt das Ergebnis mehr oder weniger stark von den Eingabeparametern ab. Selbst bei Verwendung des gleichen Programms können daher die Ergebnisse variieren. Es kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass ein Ereignis mit einer niedrigeren Eintrittswahrscheinlichkeit einen größeren Schaden verursacht.
Bei der Gestaltung der Versicherungsdeckung und Festlegung der Limits orientiert man sich oft am VCE EML. Fehler bei der Einschätzung können daher schlimmstenfalls zu Deckungslücken führen.
Eine Herausforderung für Versicherer
Im Bereich der Petrochemie stehen Versicherer vor anspruchsvollen Aufgaben. Für die Bearbeitung derartiger Risiken benötigt man umfangreiche Risikoinformationen, die nur durch erfahrene und speziell geschulte Experten erstellt werden können. Größere internationale Versicherungsprogramme decken häufig zahlreiche Standorte rund um den Globus ab, auch unter Einschluss von Naturgefahren.
Underwriter benötigen in diesem Segment ein gutes technisches Verständnis, um die Flut an Informationen basierend auf einer sorgfältigen Analyse und Bewertung aller Fakten in eine Prämie und Underwriting-Entscheidung umzusetzen. Für Versicherer gibt es einige wichtige Punkte, die bei der Zeichnung solcher Risiken beachtet werden sollten:
- sorgfältige Wertermittlung Sach/BU
- sorgfältige Kumul- und Kapazitätskontrolle
- Festlegung von Sub-Limits
- Exponierung durch Naturgefahren und deren Pricing
- qualifizierte Bewertung des VCE-MFL
- Beachtung möglicher Wechselwirkungs- und Rückwirkungsschadenpotenziale
Kritisch sind nicht nur die hohen durchschnittlichen Schäden, sondern auch eine hohe Volatilität, das Risiko von hohen Wechselwirkungs- und Rückwirkungsschäden. Insbesondere die möglichen Verluste durch Betriebsunterbrechungen bei Ausfall einzelner Anlagen sind schwer abzuschätzen. Wechselwirkungsschäden werden bei der Berechnung des BU-MFL häufig nicht berücksichtigt, u. a. weil die entsprechenden Zahlen nicht verfügbar sind.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Versicherung von petrochemischen Großrisiken angesichts der Komplexität der Produktionsprozesse und der potenziellen Schäden für die Versicherungsindustrie zu den größten Herausforderungen zählt.
Wichtige Voraussetzungen, um als Versicherer in diesem Segment erfolgreich und profitabel zu sein, sind daher eine gute Strategie, klare und strikte Zeichnungsrichtlinien, eine sorgfältige Kumulkontrolle unter Einbeziehung potenzieller Rückwirkungsschäden, erfahrene Mitarbeiter im Underwriting und beim Risk-Management, Disziplin im Underwriting sowie einen guten Rückversicherer als Partner in diesem Segment.
Unser Expertenteam kann Ihnen helfen, die Herausforderungen, die sich bei der Versicherung petrochemischer Risiken stellen, zu meistern. Bitte kontaktieren Sie Ihren Gen Re-Ansprechpartner oder wenden Sie sich für weitere Informationen direkt an mich.
Endnoten
- https://www.chemanager-online.com/en/topics/economy-business/global-footprint-chemical-industry
- Quelle: Willis Towers Watson: https://willistowerswatson.turtl.co/story/emr2018online.
- Ebenda.
- https://www.theguardian.com/uk/2010/jun/18/buncefield-fire-oil-company-guilty