I. Einleitung1
Der Anteil der Menschen im Alter ab 65 Jahren an der Gesamtbevölkerung steigt ständig – in den letzten Jahren von 15,3 % auf 23,8 %. Ab welcher Lebensphase beginnt das Alter? Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) nimmt folgende Unterteilung vor:
- 51 – 60 Jahre – alternde Menschen
- 61 – 75 Jahre – ältere Menschen
- 76 – 90 Jahre – alte Menschen
- 91 – 100 Jahre – sehr alte Menschen
70.856 ältere Menschen waren im Jahr 2014 an Unfällen mit einem Personenschaden beteiligt. Dies entspricht einer Quote von 12,3 % (sogar ein unterdurchschnittlicher Wert). Als Unfallursachen standen beim älteren Menschen Vorfahrtsfehler (17,9 %), gefolgt von Fehlern beim Abbiegen, Wenden, Rückwärtsfahren, Ein- und Anfahren (16,8 %) im Vordergrund – hier waren Senioren überdurchschnittlich beteiligt, während Abstandsfehler, nicht angepasste Geschwindigkeit sowie Alkoholeinfluss im Verhältnis zu anderen Altersklassen eine geringere Rolle gespielt haben.
Insgesamt ist allerdings die Gruppe der Senioren, was die Leistungsfähigkeit sowie den Gesundheitszustand betrifft, eine sehr inhomogene Altersgruppe. Sowohl die körperliche wie auch die geistige Verfassung sind sehr unterschiedlich.
II. Ausgangspunkt: § 3 Abs. 2a StVO2
Der Gesetzgeber hat in § 3 Abs. 2a StVO ältere Menschen unter einen besonderen Schutz gestellt:
„Wer ein Fahrzeug führt, muss sich gegenüber Kindern, Hilfsbedürftigen und älteren Menschen, insbesondere durch Verminderung der Fahrgeschwindigkeit durch Bremsbereitschaft, so verhalten, dass eine Gefährdung dieser Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist.“
Diese Schutzvorschrift gilt seit dem 01.08.1980.
Der personelle Schutzbereich „ältere Menschen“ enthält keine fixe Altersgrenze. Es kommt auf das äußere Erscheinungsbild aus Sicht des Fahrzeugführers an. Der ältere Mensch muss daher aufgrund äußerlich erkennbarer Merkmale zur geschützten Personengruppe zugehörig zu erkennen sein.3 Alternativ muss der Fahrzeugführer aus sonstigen Gründen mit der Anwesenheit von „älteren Menschen“ rechnen. Es liegt somit kein Verstoß gegen § 3 Abs. 2a StVO vor, wenn der „ältere Mensch“ als solcher nicht erkennbar war.4 Da die Schutzbereiche „Hilfsbedürftigkeit“ und „älterer Mensch“ selbstständig nebeneinanderstehen, muss der ältere Mensch nicht auch zusätzlich hilfsbedürftig sein, um unter den Schutzbereich des § 3 Abs. 2a StVO zu fallen.5
Befindet sich der „ältere Mensch“ aber in einer Verkehrssituation, in der erfahrungsgemäß damit gerechnet werden muss, dass er aufgrund seines Alters das Geschehen nicht mehr voll übersehen und meistern kann, greift der Schutz der Norm ebenfalls ein. Die „klassische“ Unfallsituation ist das Überqueren einer größeren mehrspurigen Straße.6 In einer solchen Situation wird dem Fahrzeugführer das Äußerste an Sorgfalt abverlangt, um eine Gefährdung der älteren Menschen zu vermeiden.7
Als Rechtsfolge ergibt sich aus § 3 Abs. 2a StVO eine erhöhte Pflicht zur Rücksichtnahme. Es muss jede Gefährdung ausgeschlossen sein, d. h., es gelten die höchsten Sorgfaltsanforderungen wie das Erfordernis der Verminderung der Geschwindigkeit und eine Bremsbereitschaft (beispielhaft in § 3 Abs. 2a StVO genannte Verhaltensmerkmale). Der sonst gültige Vertrauensgrundsatz8 gilt nur eingeschränkt. Der BGH hat in seinem Grundsatzurteil vom 19.04.19949 – auch heute noch gültig – die maßgeblichen Grundsätze im folgenden Leitsatz konkretisiert:
„Die besondere Schutzvorschrift des § 3 Abs. 2a StVO greift gegenüber erkennbar älteren Menschen schon dann ein, wenn diese sich in einer Verkehrssituation befinden, in der nach der Lebenserfahrung damit gerechnet werden muss, dass sie aufgrund ihres Alters das Geschehen nicht mehr voll übersehen und meistern können (hier Überschreiten einer 7,50 m breiten Straße mit Geschwindigkeitsbegrenzung für Kraftfahrzeuge auf 70 km/h). Konkreter Anhaltspunkte für eine Verkehrsunsicherheit bedarf es nicht.“
Das OLG Frankfurt führt hierzu in seinem Urteil vom 27.10.199910 aus, dass im Fall des Verstoßes des Fahrzeugführers gegen die hohen Sorgfaltsanforderungen des § 3 Abs. 2a StVO der Verkehrsverstoß beim Überqueren der Fahrbahn gem. § 25 Abs. 3 StVO in einem „milderen Licht“ erscheint.
III. Der Senior/die Seniorin und die Verkehrssicherungspflicht
Ein Verkehrssicherungspflichtiger hat in geeigneter und objektiv zumutbarer Weise die Gefahren auszuräumen – und erforderlichenfalls davor zu warnen –, die für den Benutzer, der die erforderliche Sorgfalt walten lässt, nicht oder nicht rechtzeitig erkennbar sind und auf die er sich nicht oder nicht rechtzeitig einzurichten vermag.11
Es geht somit um die berechtigten Sicherheitserwartungen des zugelassenen Verkehrs, d. h., eine Verkehrssicherungspflicht besteht nicht, wenn die Gefahr erkennbar und beherrschbar ist. Art und insbesondere Umfang der Verkehrssicherungspflicht richten sich nach dem Kreis der zugelassenen Beteiligten. Die Frage ist, ob sich die Anforderungen an die Verkehrssicherungspflicht wegen des Umstands, dass auch ältere Menschen mit dem Bereich in Berührung kommen (dort unterwegs sind), erhöhen.
Das OLG Schleswig12 hat im Grundsatz eine verstärkte Pflicht zur Reinigung/Kontrolle des Zuganges zu einer Klinik, auf dem Laub lag, auch im Hinblick auf die Nutzung durch in der Mobilität eingeschränkte Personen bejaht. Die Klage ist aber im Ergebnis abgewiesen worden, da der Verkehrssicherungspflichtige eine hinreichende Kontrolle darlegen konnte. Das Maß der Verkehrssicherungspflicht richtet sich auch nach der Zumutbarkeit von Maßnahmen für den Verkehrssicherungspflichtigen. Es ist nicht dessen Aufgabe, den Benutzer vor allen denkbaren und entfernt liegenden Gefahren zu schützen. Insbesondere darf nicht das allgemeine Lebensrisiko auf den Verkehrssicherungspflichtigen abgewälzt werden.13
Rechtsprechung dazu, ob und inwieweit sich der Verkehrssicherungspflichtige auch auf schwächere Verkehrsteilnehmer, insbesondere beim Umfang der Verkehrssicherungspflicht, auf alte Menschen einzustellen hat, ist selten. So hat der Bundesgerichtshof in seinem Urteil vom 05.07.201214 zu der Amtshaftung des Landes Berlin wegen der Verletzung der Verkehrssicherungspflicht für einen seit Jahren in einem „desolaten“ Zustand befindlichen Gehweg Ausführungen gemacht. Die im Jahr 1939 geborene Klägerin verlangte wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht Schadenersatz. Der Bundesgerichtshof hat der Klage unter Berücksichtigung eines Mitverschuldensanteils von 10 % stattgegeben. Die öffentlichen Straßen sind gemäß § 7 Abs. 2 Satz 2 BerlStrG (Berliner Straßengesetz) so zu unterhalten, dass sie dem regelmäßigen Verkehrsbedürfnis entsprechen. In § 7 Abs. 2 Satz 3 BerlStrG ist darüber hinaus ausdrücklich geregelt, dass die Belange der im Straßenverkehr besonders gefährdeten Personen sowie von Menschen mit Behinderungen zu berücksichtigen sind. Es kommt für die Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht nicht nur darauf an, ob die Gefahr erkennbar ist, sondern es ist darüber hinaus auch notwendig, dass sich der Benutzer auf die Gefahr einstellen kann. Hier sind insbesondere die Belange schwächerer Verkehrsteilnehmer, zu denen auch ältere Fußgänger gehören, zu berücksichtigen.
Der Bundesgerichtshof hat sich bei dieser Entscheidung ausdrücklich auf die entsprechende Regelung im Berliner Straßengesetz (BerlStrG) bezogen. Offen blieb daher, ob eine solche Entscheidung auch ohne eine sondergesetzliche Regelung erfolgt wäre. In Straßengesetzen anderer Bundesländer (z. B. Niedersachsen, Baden-Württemberg) sind vergleichbare Formulierungen nicht enthalten.
Allerdings enthält § 9 des Straßen- und Wegegesetzes NRW (StrWG NRW) folgenden Absatz 2:
„Beim Bau und bei der Unterhaltung der Straßen sind die allgemein anerkannten Regeln der Technik, die Belange (…) der im Straßenverkehr besonders gefährdeten Personengruppen sowie des Rad- und Fußgängerverkehrs angemessen zu berücksichtigen. Die Belange von Menschen mit Behinderung und anderer Menschen mit Mobilitätsbeeinträchtigungen sind mit dem Ziel zu berücksichtigen, möglichst weitgehende Barrierefreiheit zu erreichen.“
Hierzu hat das OLG Hamm15 zur Verkehrssicherungspflicht und zu dem zitierten § 9 des NRW-Straßen- und Wegegesetzes folgende Leitsätze verfasst.
- Aus der in § 9 II 2 NRW StrWG geregelten Verpflichtung des Straßenbaulastträgers, die Belange von Menschen mit Behinderung und anderer Menschen mit Mobilitätsbeeinträchtigungen mit dem Ziel zu berücksichtigen, möglichst weitgehende Barrierefreiheit zu erreichen, folgt nicht, dass jede Straße, unabhängig von ihrer jeweiligen Bedeutung, auch für behinderte Personen sicher zu befahren sein muss.
- Auch unter Berücksichtigung dieser Vorschrift bestimmt sich der Umfang der Verkehrssicherungspflicht danach, was ein durchschnittlicher Benutzer der betreffenden Verkehrsfläche vernünftigerweise an Sicherheit erwarten darf.
Außerhalb besonderer landesgesetzlicher Regelungen gibt es noch keine umfassende Regelung zur zwingenden Berücksichtigung der Belange besonders in der Mobilität eingeschränkter Personen, wozu im Einzelfall auch ältere Menschen gehören können. Dies gilt sowohl für die Frage der Erkennbarkeit wie auch der Beherrschbarkeit. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die besonderen Verhältnisse des Einzelfalls (z. B. Seniorenheim etc.) sich bei dem Umfang der Verkehrssicherungspflicht nicht auch auswirken können. Besondere erhöhte Anforderungen an die Verkehrssicherungspflicht können sich z. B. im Hinblick auf besondere Nutzergruppen (u. a. in Seniorenheimen etc.) ergeben. Die Verkehrssicherungspflicht auch gegenüber Senioren wird sich an dem allgemein für die Verkehrssicherungspflicht entwickelten Richterrecht messen lassen müssen.16 Diese Grundsätze sind dann jeweils im Hinblick auf die besondere Schutzbedürftigkeit von Senioren, aber auch unter Beachtung der schutzwürdigen Belange des Verkehrssicherungspflichtigen im Einzelfall zu konkretisieren:
- Das Maß der Verkehrssicherungspflicht bestimmt sich nach Größe und Ausmaß der Gefahrenstelle.
- Eine absolute Gefahrlosigkeit ist nicht erreichbar.
- Nach dem Grundsatz des Vertrauensschutzes darf der Verkehrssicherungspflichtige darauf vertrauen, dass sich Dritte in verständiger Weise auf erkennbare Gefahren einstellen; andererseits wächst die Verkehrssicherungspflicht, je weniger die Gefahr erkennbar ist.
- War es dem Geschädigten zuzumuten, sich vor der erkennbaren Gefahr selbst abzusichern, kann eine Ersatzpflicht ganz oder teilweise entfallen.
- Das Ausmaß der Verkehrssicherungspflicht wird auch von der Erwartungshaltung des Benutzers bestimmt.
- Die Verkehrssicherungspflicht hat nicht die Aufgabe, den Verkehr vor allen denkbaren und entfernt liegenden Gefahren zu schützen. Das Maß der Verkehrssicherungspflicht bestimmt sich nach der tatsächlichen und wirtschaftlichen Zumutbarkeit; auf den Verkehrssicherungspflichtigen darf nicht das allgemeine Lebensrisiko abgewälzt werden.
IV. Der Senior/die Seniorin und die einzelnen Schadenspositionen
1. Das Schmerzensgeld
Nach dem Beschluss des Großen Senats für Zivilsachen des BGH vom 06.07.195517 bestimmt sich das Schmerzensgeld in erster Linie nach der Größe, der Heftigkeit und der Dauer der Schmerzen, Leiden und Entstellungen. Die neben dieser Ausgleichsfunktion bestehende Genugtuungsfunktion tritt insbesondere im Verkehrsunfallereignis in den Hintergrund. Bei der umfassenden Abwägung der Faktoren zur Bemessung des Schmerzensgelds wird u. a. auch das Alter des Verletzten aufgeführt.18 Bei der Ermittlung des Ausmaßes der Lebensbeeinträchtigung können daher dauernde körperliche Beeinträchtigungen im hohen Alter geringer ins Gewicht fallen als bei jungen Menschen.19 Allerdings hat der BGH in seinem Urteil vom 22.09.197720 entschieden, dass auch bei altersbedingter schlechterer Heilungstendenz das Schmerzensgeld nicht wegen der geringeren Leidenszeit zu reduzieren ist.
Letztlich ist aber anerkannt, dass das Alter des Verletzten zu berücksichtigen ist. In der Schmerzensgeldtabelle Hacks/Wellner/Häcker21 wird darauf hingewiesen, dass die Rechtsprechung sich darüber einig ist, dass ein junger Mensch, der einen schweren Dauerschaden erlitten hat, wegen seines Alters mehr Schmerzensgeld bekommen muss, weil er noch lange an den Verletzungsfolgen zu tragen hat. Demgegenüber ist eine einheitliche Tendenz der Bemessung bei älteren Geschädigten nicht festzustellen. Teilweise22 wird vertreten, dass sich ein schwerer Dauerschaden bei höherem Lebensalter wegen der geringeren Lebenserwartung nicht sehr erheblich auf die Höhe auswirkt. Teilweise23 erfolgt der Hinweis darauf, dass sich die Verletzung und die Folgen deshalb besonders schwerwiegend auswirken, weil das fortgeschrittene Lebensalter den Heilungsverlauf erschwert und sich ein jüngerer Mensch besser als ein älterer den neuen Gegebenheiten anpassen kann.
Das Lebensalter spielt natürlich bei der Ermittlung einer Schmerzensgeldrente eine Rolle. So weist der BGH24 darauf hin, dass bei geringerer Lebenserwartung und damit verbundenem geringeren Schmerzensgeld zu prüfen ist, ob eine Schmerzensgeldrente die angemessene Art der Entschädigung darstellt.
2. Verdienstschaden bei Senioren
Hier ist zu differenzieren zwischen abhängig Beschäftigten und Selbstständigen/Freiberuflern.
a) Abhängig Beschäftigte
Der Geschädigte ist beweispflichtig dafür, dass und in welcher Höhe ihm infolge des Unfalls ein Erwerbsschaden entstanden ist. Für die Frage, ob er gegen den Schädiger einen Schadensersatzanspruch hat, gelten die hohen Beweisanforderungen des § 286 ZPO. Es ist dafür zwar keine absolute Sicherheit, aber ein für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewissheit erforderlich.25 Demgegenüber kommen dem Geschädigten für die Frage, in welcher Höhe und für welchen Zeitraum ihm ein Erwerbsschaden entstanden ist, die Beweiserleichterungen des § 287 ZPO zugute – es reicht jetzt eine erhebliche Wahrscheinlichkeit aus. Zusätzlich gilt für die Erwerbseinbuße noch weitergehend § 252 Satz 2 BGB.26 Nach § 252 Satz 2 BGB gilt der Gewinn als entgangen, der „nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge“ oder „nach den besonderen Umständen“ mit „Wahrscheinlichkeit“ erwartet werden konnte. Die Vorschrift begründet eine (widerlegliche) Vermutung dafür, dass die Dinge ohne den Unfall den gewöhnlichen (üblichen) Verlauf genommen hätten.27 Für einen abweichenden Verlauf, d. h. „besondere Umstände“, ist derjenige beweisbelastet, der sich darauf beruft.28
Das bedeutet, dass bei abhängig Beschäftigten die Rechtsprechung grundsätzlich davon ausgeht, dass eine Berufstätigkeit bis zum gesetzlichen Rentenalter29 erfolgt wäre, wenn keine gegenteiligen Anhaltspunkte vorliegen.30 Zu beachten ist, dass es für besondere Berufsgruppen eine vorzeitige Altersgrenze gibt (so z. B. für Soldaten, Polizei- und Polizeivollzugsbeamte, Untertagebeschäftigte, Flugzeugführer31). Soweit der Schädiger/Versicherer sich auf ein früheres Renteneintrittsalter beziehen will, muss er dafür konkret substanziierte Tatsachen darlegen und im Streitfall beweisen. Gleiches gilt umgekehrt für den Geschädigten, der geltend macht, dass er auch über das gesetzliche Renteneintrittsalter hinaus ohne das Unfallereignis weiter neben dem Bezug einer Altersrente tätig gewesen wäre.
Anhaltspunkte für eine solche Prognose sind bereits bestehende Absprachen mit dem jetzigen oder einem etwaigen anderen Arbeitgeber, auch eine konkrete Vorbereitung für eine solche spätere Tätigkeit. Ein Argument für eine Tätigkeit über das Renteneintrittsalter hinaus kann auch der Hinweis auf eine (zu) geringe zu erwartenden Altersrente sein.
Grundsätzlich bewegen wir uns im Bereich der Schätzung und Prognose32 im Rahmen des § 287 ZPO mit allen seinen Unsicherheiten und Unwägbarkeiten. Dem Geschädigten kommen die Beweiserleichterungen zugute, was sich dadurch begründet, dass seine Beweisprobleme letztlich ihre Ursachen in dem Schadensfall haben, der Schädiger die Verantwortung trägt. Gleichwohl ist die Weiterarbeit eines abhängig Beschäftigten nach dem Renteneintrittsalter ein Ausnahmefall, was dann auch die Anforderung an die Darlegungs- und Beweislast für den Geschädigten erhöht.
Der im Rentenalter Verletzte, der zum Unfallzeitpunkt einer Tätigkeit nachgeht, kann dementsprechend die Erleichterung des § 252 Satz 2 BGB, § 287 ZPO für sich in Anspruch nehmen. Es ist also – mangels anderer Anhaltspunkte – davon auszugehen, dass er ohne das Unfallereignis diese Tätigkeit auch weiter ausgeübt hätte. Es stellt sich dann nur im Rahmen der Prognose die Frage, bis zu welchem Alter er diese Tätigkeit im Rentenalter ausgeübt hätte.
b) Selbständige/Freiberufler
Bei Freiberuflern, die im Alter verletzt werden, ist zu berücksichtigen, dass diese häufig länger als bis zum 65. oder 67. Lebensjahr arbeiten. Dies ist dann im Rahmen der zu treffenden Prognose unter Berücksichtigung der § 287 ZPO, § 252 BGB zu ermitteln.
Allerdings gibt es bei einigen Berufsgruppen (z. B. Notaren) Höchstaltersgrenzen (70 Jahre). Auch ist bei der Prognose gemäß § 287 ZPO zu beachten, dass auch durch die nachlassende Leistungsfähigkeit im Alter eine Einkommensminderung eintreten kann.33 Es wird im Rahmen der Prognose auch auf die Art der Tätigkeit (körperlich schwere Tätigkeit oder Büroarbeit) sowie auf den Gesundheitszustand vor dem Unfall ankommen.
Zur Erwerbsprognose hat der BGH in einem aktuellen Urteil vom 12.01.201634 u. a. ausgeführt:
„Die erleichterte Schadensberechnung nach § 252 S. 2 BGB i. V. m. § 287 Abs. 1 ZPO lässt eine völlig abstrakte Berechnung des Erwerbsschadens nicht zu. Sie verlangt vielmehr die Darlegung konkreter Anhaltspunkte für die Schadensermittlung. […]
Es dürfen an die erforderlichen Darlegungen des Geschädigten jedoch auch keine zu hohen Anforderungen gestellt werden. […] In derartigen Fällen darf sich der Tatrichter seiner Aufgabe, auf der Grundlage der §§ 252 BGB und 287 ZPO eine Schadensermittlung vorzunehmen, nicht vorschnell unter Hinweis auf die Unsicherheit möglicher Prognosen entziehen (BGH, NJW 1998, 1633).“
c) Unentgeltliche Tätigkeit
Häufig werden Senioren unentgeltlich – z. B. bei sozialen Tätigkeiten, in der Familie – tätig. Es stellt sich dann die Frage, ob ein Verdienstausfallschaden besteht, wenn unfallbedingt diese Tätigkeit nicht mehr ausgeführt werden kann.
aa) Eigener Anspruch des verletzten Seniors?
Wird die Tätigkeit vom geschädigten Senior unentgeltlich ausgeübt, so ist fraglich, ob gleichwohl ein Verdienstausfallschaden entsteht. Die Rechtsprechung ist hierzu nicht ganz einheitlich.35 Es wird teilweise danach unterschieden, ob die Tätigkeit auch von professionellen Kräften ausgeübt wird oder nicht. Richtigerweise dürfte es so sein, dass die ehrenamtliche Tätigkeit/Hilfe innerhalb der Familie immer der eigenen Lebensgestaltung dient und sich deswegen deutlich von einer unentgeltlichen Tätigkeit in einem auf Gewinnerzielung ausgerichteten Unternehmen unterscheidet. Bei dem Ausfall einer solchen Tätigkeit entsteht daher kein Nachteil am Vermögen des Geschädigten, und es entsteht kein ausgleichspflichtiger Verdienstausfallschaden. Der Umstand, dass unfallbedingt die ehrenamtliche/familiäre Tätigkeit nicht mehr ausgeübt werden kann, ist dann Teil des immateriellen Ausgleichs und beeinflusst die Höhe des Schmerzensgelds.
bb) Anspruch desjenigen, für den der Senior unentgeltlich gearbeitet hat?
Hat der Begünstigte, der die ausgefallene Tätigkeit des verletzten Seniors u. U. mit finanziellem Aufwand (bezahlte Ersatzkraft) ersetzen muss, einen Anspruch auf Ersatz dieses Schadens gegen den Schädiger? Dies führt zu dem Problemfeld des sog. mittelbaren Schadens.
Nach unserem Rechtssystem ist grundsätzlich nur der Schaden des unmittelbar Geschädigten erstattungspflichtig.36 Dessen Anspruch kann zwar durch Abtretung oder durch gesetzlichen Forderungsübergang auf einen Dritten übergehen, es bleibt aber dann inhaltlich unverändert der Anspruch, wie er in der Hand des unmittelbar Geschädigten entstanden ist.37 Nur mittelbar Geschädigte – das sind solche Personen, die durch den Unfall nicht selbst verletzt werden, sondern unfallbedingt lediglich einen Vermögensschaden erleiden (Drittgeschädigte) – haben, vom Ausnahmefall des § 844 BGB (unfallbedingte Tötung eines Unterhaltspflichtigen) abgesehen, gegen den Schädiger keinen Ersatzanspruch.
Deshalb kann, wenn ein Rentner, der seinem Sohn unentgeltlich beim Hausbau hilft, von einem Dritten verletzt wird, wegen des Ausfalls seiner Arbeitskraft weder er selbst noch sein Sohn von dem Dritten Ersatz fordern: er selbst nicht, weil er keinen eigenen Erwerbsschaden erlitten hat (s. o.), der Sohn nicht, weil er nur mittelbar geschädigt ist.38
Ein Sonderfall kann die unentgeltliche Tätigkeit im Betrieb eines Familienangehörigen, häufig bei sog. Altsitzern, in der Landwirtschaft sein. Hier hat u. a. das OLG München mit Urteil vom 28.01.199339 eine Entscheidung getroffen. Danach ist ein Einkommen auch dann zu berücksichtigen und zu entschädigen, wenn kein ausdrücklicher Arbeitsvertrag vorlag, aber regelmäßig (auch unentgeltlich) gearbeitet wurde. Es liegt dann ein faktisches Arbeitsverhältnis vor, und der Verdienstausfall ist im Fall der unentgeltlichen Tätigkeit nach dem üblichen Arbeitslohn zu bemessen.
Zur Berechnung eines Verdienstausfallschadens beim Senioren gilt grundsätzlich die normale Berechnung, d. h., es ist von der modifizierten Nettolohntheorie auszugehen.40
Als Besonderheit ist zu berücksichtigen, dass bei einem Rentenbezug schon zum Zeitpunkt des Schadensereignisses keine Rentenversicherungs- und Arbeitslosenbeiträge gezahlt werden müssen.
3. Unterhaltsschaden
Der Unterhaltsschaden bei Tod des Unterhaltsverpflichteten gemäß § 844 Abs. 2 BGB ist nach dem gesetzlichen Anspruch auf Unterhalt und nicht auf den tatsächlich geleisteten Unterhalt zu beziehen. Grundlagen eines Unterhaltsschadensersatzanspruchs sind daher die Unterhaltsregelungen des Familienrechts (§§ 1356 ff. BGB und 1601 ff. BGB).41 Auf den Tod eines älteren Menschen bezogen bedeutet dies:
Eine Unterhaltsverpflichtung des Getöteten wird bei älteren Menschen in weniger Fällen eingreifen als bei jüngeren Menschen. Eine Unterhaltsverpflichtung endet zwar nicht zwingend mit Eintritt in das Rentenalter, die Grundsätze zur Ermittlung eines Unterhaltsschadens gem. § 844 BGB sind allerdings an das Alter anzupassen. So erlischt z. B. im Grundsatz mit Eintritt in das Rentenalter die Verpflichtung zur Arbeit. Auch wird sich die Bedarfsseite der Unterhaltsberechtigten (d. h. der Gläubiger eines Anspruches nach § 844 BGB) häufig anders als bei jüngeren Getöteten darstellen. Aufgrund des fortgeschrittenen Lebensalters führt naturgemäß die Prognose über die mutmaßliche Dauer einer Unterhaltsverpflichtung des Getöteten zu einer zeitlich begrenzteren Dauer eines Unterhaltsschadens.
4. Der Senior/die Seniorin und der Haushaltsführungsschaden
Mit dem Alter ändert sich auch die Haushaltsführung. Die Berechnung des Haushaltsführungsschadens erfolgt in folgenden Schritten:42
- Ermittlung des Anspruchsberechtigten (familienrechtliche Unterhaltspflicht)
- Ermittlung des Zeitbedarfs im Haushalt (konkrete Darlegung nicht lediglich Bezug auf Tabellenwerke)
- haushaltsspezifische Beeinträchtigung (MdH nicht MdE)
- Ermittlung des Stundensatzes (konkret oder fiktive Abrechnung?)
Ist nun ein älterer Mensch betroffen, stellen sich insbesondere folgende Fragen:
- Wie wirkt sich mehr Zeit zu Hause nach Ende des Berufslebens aus?
- Wie ändert sich der Haushalt, wenn beide Ehepartner zu Hause sind?
- Können alle Tätigkeiten weiter uneingeschränkt ausgeführt werden?
- Wie lange (Lebenszeit) ist ein Haushaltsführungsschaden anzunehmen?
Kommt es im Alter schadensunabhängig zu einer Herabsetzung der Leistungsfähigkeit, führt dies noch nicht zwangsläufig zu einem Haushaltsführungsschaden. Die bloße Verminderung der Arbeitskraft ist noch kein Haushaltsführungsschaden, d. h., benötigt man etwas mehr Zeit, dann erhöht sich dadurch noch nicht der Haushaltsführungsschaden.
Interessant ist das Urteil des OLG Celle vom 26.08.1993 – 14 U 106/92 = BeckRS 2009, 18106:
„(…) Im Rahmen der vorzunehmenden Schätzung der Höhe dieses Anspruches ist aber ferner zu berücksichtigen, dass der Kläger, nicht zuletzt in Anbetracht seines vorgerückten Alters, nicht alle kleineren, auch jahreszeitlich bedingten Reparaturarbeiten selbst ausführen konnte, sodass sich ein weiterer Abzug von einer Wochenstunde rechtfertigt. (…)“
Ohnehin ist bei dem unfallbedingten Haushaltsführungsschaden zu berücksichtigen, wie sich die unfallkausalen Beeinträchtigungen auswirken und (Frage der überholenden Kausalität) wie lange ohne das Unfallereignis die Hausarbeit ausgeführt worden wäre.
Auch bei der Schätzung der Rentendauer geht die bisherige Rechtsprechung grundsätzlich von der Vollendung des 75. Lebensjahres aus. Eine solche starre Grenze wird allerdings – auch wegen des demografischen Wandels – zunehmend hinterfragt.43
Es gibt daher auch schon Urteile, die einen Rentenanspruch ohne zeitliche Begrenzung, d. h. bis zum Lebensende gewähren. Dann sollte allerdings auch berücksichtigt werden, dass sich mit zunehmendem Alter die Leistungsfähigkeit vermindert. Wesentlich für die Zukunftsprognose sind im Einzelfall auch die Gesundheit und die Lebensumstände des Geschädigten zum Unfallzeitpunkt.
Das OLG Düsseldorf44 hat eine Rente über das 75. Lebensjahr hinaus zugesprochen und ausgeführt, dass eine solche Rente umso eher zu billigen ist, wenn die vom Schädiger zu verantwortende Verletzung sich im fortgeschrittenen Alter des Geschädigten ereignet hat und absehbar ist, dass der Geschädigte auch über das 75. Lebensjahr hinaus in der Lage gewesen wäre, eigenverantwortlich den Haushalt zu führen.
Auch das OLG Köln hat mit Urteil vom 12.12.201445 ausgeführt, dass eine Befristung nicht erfolgt, es aber denkbar ist, dass der Anspruch ab einem bestimmten Alter schrittweise abgesenkt wird.
5. Unfallbedingter Mehrbedarf
Auch bei dieser Schadensposition stellen sich insbesondere Fragen der überholenden Kausalität. Wäre der Geschädigte nicht auch ohne den Unfall pflegebedürftig geworden? Auch eine solche Prognose hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalls ab.
Der BGH hat mit Urteil vom 14.02.199546 darauf hingewiesen, dass es nicht zum gewöhnlichen Verlauf der Dinge gehört, dass sich alte Menschen von einem bestimmten Alter an in eine Heimbetreuung begeben müssen. Das bedeutet, dass es dann zur Darlegungs- und Beweislast des Schädigers/dessen Haftpflichtversicherung gehört, Umstände vorzutragen und gegebenenfalls auch zu beweisen, aus denen zumindest mit überwiegender Wahrscheinlichkeit gem. § 287 ZPO die Prognose gestellt werden kann, dass ab einem Alter der Geschädigte ohnehin pflegebedürftig geworden wäre.
V. Fazit
Die Besonderheiten, die bei einem Unfall mit einem älteren Menschen zu beachten sind, werden – dem demografischen Wandel geschuldet – immer mehr in den Blickpunkt rücken. Der vorliegende Beitrag hat einige wichtige Diskussionspunkte beleuchtet. Dass das Thema auf dem Verkehrsgerichtstag in Goslar (25. – 27. Januar 2017) erörtert wird (Arbeitskreis III: Senioren im Straßenverkehr), zeigt seine zunehmende Bedeutung.