Am 12. Mai wurde weltweit auf unzureichend verstandene chronische immunologische und neurologische Erkrankungen (CIND) aufmerksam gemacht. Eine dieser Erkrankungen ist die Myalgische Enzephalomyelitis (ME) / das Chronische Fatigue-Syndrom (CFS) – eine schwere, langwierige Krankheit.1
Das Datum wurde in Erinnerung an den Geburtstag von Florence Nightingale gewählt, die 1820 geboren wurde und als Begründerin der modernen Krankenpflege gilt. Ab ihrem 30. Lebensjahr zeigte die Pionierin Symptome, die im Nachhinein auf ME/CFS zurückgeführt werden können.2
ME/CFS ist also kein Phänomen der Neuzeit. Dennoch ist die aktuelle Medienpräsenz erhöht und sogar im Deutschen Bundestag wurde die Erkrankung in diesem Jahr das erste Mal in den Fokus gerückt.3 Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die neue und ebenfalls unzureichend verstandene Erkrankung "Long-COVID" einige ähnliche Symptome wie ME/CFS zeigt.
Nach den IOM-Diagnosekriterien von 20154 wird ME/CFS diagnostiziert, wenn die Betroffenen seit mindestens sechs Monaten erheblich in ihrem Funktionsniveau eingeschränkt sind und unter Fatigue, Post-Exertional Malaise (d. h. einer unverhältnismäßigen Verschlimmerung der Symptome nach geistiger oder körperlicher Anstrengung) und nicht erholsamen Schlaf leiden. Darüber hinaus muss entweder eine kognitive Beeinträchtigung oder eine orthostatische Intoleranz vorliegen, um die Diagnose zu stellen.5
Über die Ursachen (Ätiologie) von ME/CFS herrscht nach wie vor Unklarheit. Die vermutlich bekannteste Hypothese bezüglich der Ätiologie geht von einer übersteigerten Immunreaktion nach einer Virusinfektion, insbesondere durch humane Herpesviren wie dem Epstein-Barr-Virus, aus6 Diese überschießende Immunreaktion könnte auch erklären, warum einige Patient*innen nach einer COVID‑19-Infektion ME/CFS-ähnliche Symptome zeigen.7 Andere Hypothesen gehen davon aus, dass dem ME/CFS eine metabolisch-endokrine Dysfunktion und/oder psychosoziale Erklärungen zugrunde liegen. Insgesamt wird vermutet, dass es sich nicht um eine ein‑, sondern multidimensionale Ätiologie handelt.8
Ungewissheit besteht auch hinsichtlich der bestmöglichen Behandlung von ME/CFS. Bis heute gibt es keine bekannten medikamentösen oder nicht-medikamentösen Therapien, die zu einer Genesung von der Erkrankung führen.9 Vielmehr wird eine individuelle Therapie empfohlen, die die Symptomkontrolle, Übungen zur Wiedererlangung oder Erhaltung der Mobilität, Ernährungsberatung und/oder kognitive Verhaltenstherapie umfasst.10
Fest steht, dass die Diagnose ME/CFS nicht nur individuelle sondern auch sozioökonomische Auswirkungen hat. Die Prävalenz wird auf 0,89 % geschätzt, wobei Frauen etwa 1,5‑mal häufiger betroffen sind als Männer.11 Die jährlichen direkten und indirekten Gesamtkosten von ME/CFS in den USA werden auf 17 bis 24 Milliarden Dollar geschätzt.12
Diese Kosten lassen sich durch die niedrigen Heilungsraten, sowie der hohen Wahrscheinlichkeit für Arbeitsunfähigkeit aufgrund der ME/CFS-Diagnose erkären. Es kann davon ausgegangen werden, dass sich weniger als 10 % der Patient*innen vollständig von der Erkrankung erholen,13 d. h. keine Symptome mehr aufweisen und zum prä-morbiden Funktionsniveau zurückkehren.14 Der nicht arbeitende Anteil an ME/CFS-Patient*innen schwankt zwischen 35 % und 69 %.15 Es gibt Hinweise darauf, dass im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen, aber auch zu Patient*innen mit Multipler Sklerose, die Arbeitsfähigkeit von Menschen mit ME/CFS deutlich erniedrigt ist.16 Die eingeschränkte Arbeitsfähigkeit scheint dabei mit einer verzögerten Diagnose,17 einer längeren Krankheitsgesamtdauer18 und Komorbiditäten wie Fibromyalgie, Reizdarmsyndrom, Depression oder Angstzuständen verbunden zu sein.19,20,21
Ein schwacher prognostischer Hoffnungsschimmer ist in Bezug auf die Sterblichkeit zu erkennen. Nicht nur Florence Nightingale erreichte das beeindruckende Alter von 90 Jahren,22 auch allgemein scheint es keinen signifikanten Unterschied zwischen der Gesamtsterblichkeitsrate von ME/CFS-Patient*innen und der Allgemeinbevölkerung zu geben.23 Lediglich Betroffene mit sehr schwerer Fatigue weisen eine höhere Sterblichkeitsrate, hauptsächlich aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, auf.24
Insgesamt ist die aktuelle Prognose für ME/CFS besorgniserregend; nicht nur für die Betroffenen, sondern auch hinsichtlich ihrer Versicherbarkeit. Ein großer Faktor spielt dabei die Unsicherheit, die die Krankheit begleitet. Es ist daher zu wünschen, dass die derzeit erhöhte Aufmerksamkeit, die ME/CFS erhält, nicht verblasst, bevor neue Erkenntnisse gewonnen wurden.