Risikosituation
Die globale Wirtschaft war bisher geprägt von kontinuierlichem Wirtschaftswachstum und Wohlstand durch Optimierung der Produktions- und Handelsprozesse. Gleichzeitig wurde versucht, Effizienzen und Kosteneinsparungen sowie eine größere Marktdurchdringung zu erzielen. Just-in-Time und Globalisierung sind nur zwei der damit verbundenen Schlagworte.
Diese Geschäftsmodelle haben in den letzten Jahren einige Ereignisse Risse bekommen. Zu nennen sind beispielsweise die zunehmenden, durch den Klimawandel verursachten Schäden und wachsende politische Unwägbarkeiten, die sich in den derzeitigen Konflikten und weltweiten Spannungen zeigen. Beispiele hierfür sind der Krieg in der Ukraine, die wachsenden Spannungen zwischen den USA und China sowie die COVID-Pandemie und die damit verbundenen Lockdowns. Zu beobachten ist ferner, dass lokale Ereignisse und Schäden zunehmend weltweite Auswirkungen und Schadensfolgen nach sich ziehen. Typische Beispiele sind die Flut in Thailand im Jahr 2011,1 die Blockierung des Suezkanals durch einen Schiffsunfall 2021,2 der Brand eines Halbleiterwerks in Asien 20213 und die bestehenden Engpässe bei Containern und Transportmitteln in den Jahren 2021/2022.4 Einer der Hauptgründe hierfür liegt in der in den letzten Jahrzenten vorangetriebenen, immer engeren weltweiten Verzahnung und Automatisierung der Produktions- und Handelsprozesse, die bei Störungen komplexe Kettenreaktionen und Kaskadeneffekte auslösen.
Als Folgen dieser Ereignisse sind eine steigende Inflation und Rezessionstendenzen zu beobachten, die zu einem veränderten Kaufverhalten der Konsumenten, Versorgungsengpässen bei Rohstoffen und Vorprodukten, steigenden Preisen für Wirtschaftsgüter und steigenden Unternehmensinsolenzen führen.
Aufgrund dieser Situationen überdenken viele Unternehmen ihre bisherigen strategischen und operativen Konzepte und Pläne und suchen nach neuen Lösungen. Hierzu werden verschiedene Lösungsansätze diskutiert, wie eine De‑Globalisierung durch eine stärkere geografische Differenzierung der Beschaffung von Waren, Reduzierung des Ausfallsrisikos für ein Unternehmen durch Diversifizierung des Geschäftsmodells, Steigerung der Transparenz in den Produktions- und Handelsprozessen und der Resilienz in der Supply Chain. Immer mehr setzt sich dabei die Erkenntnis durch, dass Prozessoptimierungen und Kostenreduzierungen zu einem stärkeren Risikozuwachs führen, d. h., bei einer Störung der Prozesse keine oder nur unzureichende Alternativen zur Verfügung stehen, um mögliche Schadensfolgen zu kompensieren. Eine Möglichkeit zur Stärkung der Resilienz von Unternehmen gegenüber Störereignissen kann durch ein verbessertes Risikomanagement und mit präventiven Schutzmaßnahmen erreicht werden. Eine solche Maßnahme ist die Reduzierung der Abhängigkeit von Rohstoffen und Zwischenprodukten durch eine vermehrte Lagerbevorratung.
Im folgenden Artikel sollen einige der mit verstärkter Lagerhaltung verbundenen Herausforderungen für die Sachversicherung diskutiert und mögliche Handlungsalternativen aus Sicht der Sachversicherung beleuchtet werden.
Distributionslager
Lager sind eine Räumlichkeit zur Aufbewahrung von Gütern (Materialien und Waren), die erst später benötigt werden, z. B. für die Produktion von Ware (bspw. Rohstofflager) oder für die Auslieferung an Kunden (Fertigwarenlager) vorgehalten werden. Sie können Teil eines Produktionsbetriebs, aber auch eigenständig sein.
Nach der jeweiligen Hauptfunktion des Lagers lassen sich Beschaffungs‑, Speditions-/Umschlags‑, Zwischen‑, Fertigwaren‑, Verkaufs- und Verteilungslager unterscheiden. Lager können ein- oder mehrgeschossig sein und Lagerflächen von mehr als 100.000 m² sowie Lagerhöhen bis zu 50 m aufweisen (z. B. Hochregallager).
Gemäß ihren Eigenschaften lassen sich Lager klassifizieren nach:
- Art der Lagerung: z. B. Schüttgut‑, Block‑, Regallager
- Art des gelagerten Produkts
- Art des Gebäudes: Freiluftlager, Hallen, Keller, Silos oder Depots, Tiefkühllager, selbsttragende Lager
- Materialfluss: Lager für Rohstoffe, Bauteile oder halbfertige Produkte, Endprodukte, Zwischenlager, Depotlager, Vertriebslager
- Standort: z. B. Zentrallager, Regionallager, Transitlager
- Automatisierungsgrad: manuell, halbautomatisiert, vollautomatisiert
Typische Aktivitäten in einem Lager sind Warenempfang und ‑überprüfung, Einlagerung, Kommissionierung und Warenversand zu den Kunden.
Schadenbeispiele
Im Januar 2023 ereignete sich in Frankreich ein Brand in einem Lagerkomplex mit drei Lagereinheiten mit einer Größe von jeweils ca. 6.000 m².5 In einem Lagerabschnitt wurden nach Pressemeldungen 12.500 Lithium-Ionen-Batterien für Automobile gelagert. Von dort breitete sich der Brand auf die beiden anderen Lagerabschnitte aus; in einem wurden ca. 80.000 Reifen gelagert, im anderen Textilien und Holzpaletten. Um den Brand zu löschen, waren 137 Feuerwehrleute mit 60 Einsatzfahrzeugen im Einsatz.
Bereits im Jahr 2021 ereignete sich in den USA ein Brand mit Lithium-Ionen-Batterien,6 der erst nach ca. zwei Wochen durch die Feuerwehr unter Einsatz von 20 t Portlandzement vollständig gelöscht werden konnte. Gelagert wurden dort Batterien für „unterbrechungsfreie Stromversorgungssysteme“, Telekommunikationssysteme, erneuerbare Energien, Versorgungsunternehmen und Notbeleuchtungssysteme. Insgesamt wurden ca. 90 t gelagert, davon u. a. ca. 45 t neue und gebrauchte Lithium-Ionen-Batterien sowie ca. 22 t defekte, geschädigte oder zurückgerufene Lithium-Ionen‑Batterien.
Für Aufsehen sorgte in der Fachwelt der Brand eines Online-Lebensmittelhändlers im Vereinigten Königreich,7 der ein modernes roboterbetriebenes Distributionslager unterhielt. Einer der mit Lithium-Ionen-Batterien bestückten Roboter begann zu brennen und setzte weitere Fahrzeuge und das Lager in Brand. Letztlich waren 200 Feuerwehrleute notwendig, um den Brand zu löschen. Das Lager erlitt einen Totalschaden.
Auch die Größenordnung und damit einhergehende Wertbelastung der Lager ist gestiegen. So brannte im Jahr 2022 in den USA ein Lager mit ca. 112.000 m² Lagerfläche,8 das trotz einer vorhandenen Sprinkleranlage vollständig vernichtet wurde. 350 Feuerwehrleute konnten den Schaden im hohen dreistelligen Millionenbereich nicht verhindern. Einige weitere solch desaströser Lagerbrände ereigneten sich in Russland (2022),9 Taiwan (2022)9 sowie in Korea (2021)11 und den USA (2021).12
Statistische Erkenntnisse
Verwertbare statistische Daten für die Sachversicherung zu Schäden in Lagerbereichen sind nur bedingt erhältlich. In den USA gab es in den Jahren 2016 bis 2020 im Durchschnitt ca. 1.400 Brände in eigenständigen Lagern.13 Im Vereinigten Königreich ereigneten sich in den letzten Jahren ca. 300 Lagerbrände mit zunehmender Tendenz im Beobachtungszeitraum 2020 bis 2022.14
In Deutschland werden Lagerbrände vom Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) registriert.15 Zurzeit sind lediglich Daten von Schadenfällen bis zum Jahr 2020 zu erhalten. Seit einem Peak im Jahr 2020 ist die Zahl der Brände von ca. 400 Bränden auf ca. 220 gefallen. Verfolgt man jedoch die Presse aufmerksam, ist zu erwarten, dass die Schadenanzahl wie in den anderen Ländern auch wieder ansteigen wird.
Neuartige Herausforderungen
TL‑ASRS
Die Lagertechnologie hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Lagerkosten werden in Unternehmen üblicherweise als gewinnmindernd angesehen („totes Kapital“), weshalb man schon frühzeitig nach Wegen suchte, die damit verbundenen Kosten zu senken. So wurden Just-in-Time-Konzepte umgesetzt, um die Lagerflächen in Betrieben zu reduzieren; weitere Effizienzsteigerungen wurden durch Optimierung der Verpackung, der Lagerbewirtschaftung sowie Zentralisierung und Auslagerung auf Lagerdienstleister erreicht. Gleichzeitig wuchs damit die Abhängigkeit der Unternehmen, dass die benötigte Ware rechtzeitig und in ausreichender Menge zur Produktion angeliefert wurde.
Insbesondere die Lagerbewirtschaftung wurde zunehmend automatisiert, um die Kosten zu senken. Eine weitere Einsparmaßnahme war, die Lagerdichte durch Änderung der Lagerkonzeption zu erhöhen. Ein Beispiel hierfür ist die Entwicklung von automatisierten, roboterbetriebenen Lagerkonzepten, bekannt als Auto Storage Retrieval Systems (ASRS), die zunächst bevorzugt für Kleinteilelager eingesetzt wurden, zunehmend aber den Weg in die allgemeine Lagerbewirtschaftung gefunden haben.
Beim sog. Top-Load-System (TL‑ASRS) als einem der bekanntesten Konzepte16 bildet ein Grundgerüst aus Aluminium-Stranggussprofilen den Rahmen für das Lager. Jeweils vier Stützen bilden einen Lagerschacht, in den von oben Kunststoffbehälter übereinander eingelagert werden können. Die Entnahme und Einlagerung der Kunststoffbehälter aus und in die Lagerschächte erfolgt mit akkubetriebenen Robotern, die sich auf einem Schienensystem bewegen, das den oberen Abschluss des Grundgerüsts bildet und die benötigten Behälter über einen Senk- und Hebemechanismus der Roboter aus dem jeweiligen Lagerschacht heraushebt. Die Roboter bringen die Kunststoffbehälter zu Arbeitsstationen, an denen das eigentliche Lagergut ein- oder ausgelagert werden kann. Zum Einsatz kommen in der Regel Systembehälter, die aus Polypropylen- oder Polyethylen-Kunststoffen bestehen. Sie sind in verschieden Maßen verfügbar (Breite 445 cm x Länge 65 cm x Höhe 22 cm, 33 cm oder 42,5 cm, die für eine maximale Zuladung von 35 kg geeignet sind. Zurzeit werden Entwicklungen angestrebt, die die Höhe eines Lagerbehälters weiter steigern.
Bild 1 – schematische Darstellung eines ASRS‑Lagerkonzeptes