Bewegung ist Medizin
Ein Blick in die Studie Global Burden of Disease zeigt, dass die koronare Herzkrankheit im Jahr 2019 weltweit die häufigste Todesursache war.3 Könnte Bewegungsmangel eine der globalen Hauptursachen für Herzerkrankungen sein? Laut WHO sind rund 1,4 Milliarden Erwachsene sportlich-körperlich nicht aktiv genug, um sich gesund zu erhalten. Konkret sind eine von drei Frauen und einer von vier Männern körperlich nicht ausreichend aktiv. Bedauerlicherweise war die Zahl der Menschen in Ländern mit hohem Einkommen, die sich ausreichend bewegten, zwischen 2001 und 2016 rückläufig.4 Gleichzeitig zählen Übergewicht und Adipositas zu den zunehmenden Problemen, die sich global und vor allem in westlichen Ländern beobachten lassen. Es gibt einen Trend zu einem steigenden Body-Mass-Index (BMI) und mehr gesundheitlichen Problemen, und beides führt wiederum zu einem geringeren Maß an körperlicher Aktivität.5 Bewegung ist in der Tat Medizin, denn evidenzbasierte Daten zeigen, dass das Risiko für bestimmte Erkrankungen sinkt, wenn die allgemeinen Bewegungsempfehlungen befolgt werden: Das allgemeine Sterblichkeitsrisiko sinkt um 30 %, das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen um 20 bis 35 %, das Risiko von Typ‑2-Diabetes um 25 bis 42 % und das Risiko des Metabolischen Syndroms um 30 bis 40 %.6 In einer Studie wurde der Zusammenhang zwischen dem kardiovaskulären Risiko innerhalb der nächsten zehn Jahre und der körperlichen Aktivität von Personen mit normalem bis hohem BMI untersucht. Die Daten stammten aus der „National Health and Nutrition Examination Survey“, die zwischen 2007 und 2016 mit 22.476 Probanden im Alter von 30 bis 64 Jahren ohne kardiovaskuläre Vorerkrankung durchgeführt wurde. Die Ergebnisse zeigten zum einen, dass Personen mit Übergewicht und Adipositas ein höheres kardiovaskuläres Risiko innerhalb der nächsten zehn Jahre hatten als Menschen mit Normalgewicht. Andererseits war dieses Risiko bei übergewichtigen und adipösen Menschen mit aktiver Lebensweise niedriger als bei inaktiven Menschen.7 Körperliche Inaktivität kann also verschiedene Krankheiten verursachen, die sich wiederum negativ auf den allgemeinen Gesundheitszustand auswirken. So gehören Adipositas und Typ‑2-Diabetes zu den Problemen, die im Zusammenhang mit einer inaktiven Lebensweise stehen. Tägliche Bewegung wie Treppensteigen oder Fahrradfahren konnte das Risiko für Typ‑2-Diabetes in einer Gruppe von Menschen zwischen 45 und 64 Jahren nachweislich senken.8
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass körperliche Inaktivität ein globales Problem ist, das mit gesundheitlichen Problemen in Verbindung steht. Menschen, die regelmäßig sportlich-körperlich aktiv sind, haben signifikante gesundheitliche Vorteile, die generell und möglicherweise auch in der Risikoprüfung positiv bewertet werden sollten.
Gesundheitsfördernd oder schädlich – wo liegt die Grenze?
Wie wir gesehen haben, hat regelmäßige Bewegung einen enorm positiven Einfluss auf die Gesundheit. Kann es jedoch auch sein, dass körperliche Aktivität von besonders hoher Intensität schädlich ist? Die meisten Studien beschreiben einen positiven Zusammenhang zwischen körperlicher Aktivität und der Herzfunktion. Es gibt jedoch auch Berichte, denen zufolge ein hochintensives Training die Gefahr von Plaquebildung im Herzen birgt und somit das Risiko für koronare Herzerkrankung erhöht. Die Hypothese lautet, dass das Plaquerisiko bei Sportlern, die regelmäßig mit hoher Intensität trainieren, aufgrund mehrerer Faktoren steigt, darunter einer höheren Entzündungsrate, einer erhöhten mechanischen Beanspruchung, einer unterbrochenen laminaren Blutströmung sowie einer hohen Produktion des Parathormons. Obwohl man bei Sportlern eine vermehrte Plaquebildung und ein höheres Risiko für koronare Herzerkrankung festgestellt hat, überwiegen die Vorteile – wie eine höhere Lebenserwartung, geringere Folgen einer Stenose oder eine verbesserte Funktion der Herzkranzgefäße.9 Folglich lässt sich feststellen, dass zu viel Sport oder regelmäßig intensives Training zur Entstehung von Plaque in den Gefäßen führen kann, wodurch das Risiko von Arteriosklerose als mögliche Ursache für Herzerkrankungen wie einen Herzinfarkt steigt. Eine gute Herzgesundheit setzt deshalb das richtige Maß an körperlicher Aktivität voraus.
Körperliche Aktivität und ihre Relevanz für die Versicherungswirtschaft
Wie lassen sich die gesundheitlichen Vorteile von körperlicher Aktivität nun auf Versicherungsprodukte anwenden? Heutzutage bieten viele Versicherungsunternehmen ihren Kunden an, ihre Gesundheitsdaten per Fitnesstracker zu übertragen, um Bonuspunkte für körperliche Aktivität zu sammeln. Andererseits wäre es aus Sicht der Versicherungswirtschaft schön, wenn es eine Messung gäbe, mit der sich die Überlebensrate von Versicherungsnehmern präzise prognostizieren ließe. Eine Möglichkeit wäre es, zu diesem Zweck die Herzfrequenzvariabilität (engl. heart rate variability, HRV) zu messen. Die HRV bezeichnet die natürliche Variation der Zeitabstände zwischen zwei Herzschlägen und wird in Millisekunden gemessen. Eine hohe HRV steht nachweislich im Zusammenhang mit einer höheren kardiovaskulären Fitness und kann durch Bewegung verbessert werden. Eine im American Journal of Epidemiology veröffentlichte Studie untersuchte den Zusammenhang zwischen der HRV und körperlicher Aktivität. Dafür mussten die Probanden im Alter von 45 bis 68 Jahren Angaben zu ihrer körperlichen Aktivität und deren Intensität von mäßig bis intensiv machen; gleichzeitig wurde ihre HRV gemessen. Das Ergebnis war, dass Personen, die intensiv körperlich aktiv waren, eine höhere HRV und somit ein geringeres Risiko für Herzerkrankungen aufwiesen.10 Die Vorzüge einer hohen HRV sind in mehreren Studien wissenschaftlich belegt worden – und zwar nicht nur in Bezug auf die kardiovaskuläre Fitness, sondern auch im Zusammenhang mit prognostischen Faktoren bei Krebsüberlebenden. Eine Studie untersuchte den Zusammenhang zwischen der Tumorprogression bei Krebspatienten und deren HRV-Werten. Interessanterweise erzielten Patienten mit einer höheren HRV ein besseres Behandlungsergebnis als solche mit niedriger HRV, was zeigt, dass die HRV auch ein nützlicher Faktor ist, um den künftigen Gesundheitszustand von Krebsüberlebenden zu prognostizieren.11
Wie können wir Daten zur Herzfrequenzvariabilität im Versicherungskontext nutzen? Nehmen wir als Beispiel eine 40‑jährige Antragstellerin mit hohem BMI und hohem Nüchternblutzucker ohne diagnostizierten Diabetes als Risikofaktoren. Hier wäre die Frage, ob die Risikoeinschätzung durch Berücksichtigung weiterer Daten positiver ausfallen könnte. Dabei wäre es unter anderem wichtig zu wissen, ob die Antragstellerin regelmäßig körperlich aktiv ist und die allgemeinen Bewegungsempfehlungen befolgt. Eine weitere Möglichkeit wäre die Messung der HRV durch Tragen eines Wearables. Hätte die Antragstellerin eine hohe HRV und wäre sie regelmäßig körperlich aktiv, ließe sich ihr Gesundheitszustand genauer prognostizieren, was sich positiv auf die Beitragseinstufung auswirken würde. Selbstverständlich müssten dabei einige Faktoren berücksichtigt werden: Ein Grund für die Antiselektion wäre es, wenn die Antragstellerin falsche Angaben zu ihrer körperlichen Aktivität macht, um sich dadurch eine niedrigere Prämie zu sichern. Im Vergleich dazu eignet sich die HRV besser als Grundlage für die Risikobeurteilung, da sie vom autonomen Nervensystem reguliert wird und deshalb nicht bewusst gesteuert werden kann.
Körperliche Aktivität und ihre Auswirkungen auf die psychische Gesundheit
In Bezug auf die gesundheitsschützenden Eigenschaften von Bewegung und Sport muss bedacht werden, dass der Gesundheitszustand eines Menschen immer Körper und Geist umfasst. In diesem Abschnitt befassen wir uns deshalb mit den Auswirkungen von körperlicher Aktivität auf die psychische Gesundheit sowie den Auswirkungen von Sport und Bewegung auf Patienten, die an einer psychischen Störung leiden.
Was ist psychische Gesundheit?
Die WHO definiert psychische Gesundheit als einen „Zustand des Wohlbefindens, in dem eine Person ihre Fähigkeiten ausschöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv arbeiten und einen Beitrag zu ihrer Gemeinschaft leisten kann“. Darüber hinaus umfasst sie unter anderem „subjektives Wohlbefinden, wahrgenommene Selbstwirksamkeit, Autonomie, Kompetenz, generationenübergreifende Abhängigkeit und Selbstverwirklichung des eigenen intellektuellen und emotionalen Potenzials“.12 Zu beachten ist, dass die psychische Gesundheit für jedermann relevant ist, denn sie ist Teil des allgemeinen Gesundheitszustands. Psychische Erkrankungen treten nur dann auf, wenn sich dieser Gesundheitszustand deutlich verschlechtert und sich so nachhaltig und schwerwiegend auf das tägliche Funktionieren einer Person auswirkt, dass das Wohlbefinden und die Bewältigung von Stressoren nicht mehr gewährleistet sind. Ein signifikanter Verlust der Produktivität und eine soziale Isolation sind oft Anzeichen dafür, dass die psychische Gesundheit über die gewöhnlichen Stimmungsschwankungen hinaus beeinträchtigt ist.
Was das eigene Wohlbefinden anbelangt, haben wohl die meisten Menschen schon die Erfahrung gemacht, dass Sport und Bewegung nach einer hektischen Woche tatsächlich Stress und Anspannung abbaut. Tatsächlich sind wir uns alle bewusst, dass wir uns durch regelmäßige körperliche Aktivität allgemein wohler fühlen und das lange Zeiträume der Untätigkeit den gegenteiligen Effekt haben. Wissenschaftliche Studien stützen diesen subjektiven Eindruck. Generell verbessert Bewegung die psychische Gesundheit und mindert die psychische Belastung.13 So wurde beispielsweise festgestellt, dass Mannschaftssportarten die Stressresistenz erhöhen und das Gefühl der Isolation verringern. Eine andere Studie ergab, dass körperliche Aktivität einen positiven Effekt auf das Selbstbewusstsein hat, die erfahrene Selbstwirksamkeit und Vitalität sowie das allgemeine Wohlbefinden fördert und zu einem positiveren Selbstbild führt.14 All diese Faktoren können die psychische Gesundheit in schwierigen Zeiten schützen. Wenn wir uns die Definition der WHO in Erinnerung rufen, stellen wir fest, dass sich Bewegung und Sport sogar speziell auf die genannten Faktoren auswirken (z. B. Selbstwirksamkeit).
Bewegung als therapeutisches Mittel
Auch wenn eine diagnostizierte psychische Störung nicht durch Bewegung allein geheilt werden kann, zeigen Studien, dass Symptombelastung15 und negative Stimmung16 durch körperliche Aktivität verringert werden können. Ein Beispiel ist die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Bei der PTBS handelt es sich um eine durch ein Trauma ausgelöste Störung mit einer hohen Symptombelastung, zu der unter anderem Flashbacks, emotionale Dysregulation, Schlafstörungen, Hypervigilanz und Dissoziation gehören. Somatische Symptome gehen oft mit psychischen Symptomen einher, was es den Patienten erschwert, sich an ein Sportprogramm zu halten. Bekanntermaßen beeinflussen traumatische Erfahrungen nicht nur die Psyche, sondern hinterlassen auch körperlich Spuren. Dies gilt besonders für Personen, die wiederholt traumatisiert wurden und solche, deren traumatische Erfahrung(en) eine körperliche Komponente umfasst, wie z. B. sexueller Missbrauch, Vergewaltigung oder häusliche Gewalt. Patienten mit diagnostizierter PTBS kompartimentieren häufig ihre Erinnerungen an das Erlebte und haben Schwierigkeiten, Gefühle und körperliche Empfindungen wahrzunehmen.17 Dies ist ein Bewältigungsmechanismus, den das menschliche Hirn nutzt, um sich in Trigger-Momenten vom emotionalen und physischen Wiedererleben des Traumas zu dissoziieren. Das Problem ist natürlich, dass es Patienten, die z. B. unter Flashbacks oder Hypervigilanz leiden, schwer fällt, aus diesen scheinbar unkontrollierbaren Momenten der Überwältigung ausgelöst durch eine automatische Traumareaktion, heraus und in den jetzigen Moment zurückzukehren. Das Gehirn verbleibt in einem Zustand der erhöhten Alarmbereitschaft und Schreckhaftigkeit – also quasi in der Vergangenheit – und ist deshalb nicht in der Lage, gegenwärtige Sinnesreize als diese wahrzunehmen. Eine der häufigsten psychologischen Strategien, die Traumapatienten erlernen, ist die bewusste Wahrnehmung ihrer Umgebung, indem sie die Dinge benennen, die sie sehen, fühlen, hören, riechen oder schmecken. Sport kann ebenfalls helfen, präsent zu bleiben und gegenwärtige körperliche Empfindungen an das Gehirn rückzumelden. Traumasensibles Yoga kann nachweislich dazu beitragen, PTBS-Patienten mit dissoziativen Symptomen wieder mit ihrem Körper und ihrem Atem zu verbinden, und ihnen ein Gefühl von Kontrolle und Verankerung im Hier und Jetzt vermitteln.18 Aerobes Training wie Spinning oder Laufen sind ebenfalls geeignet, Hypervigilanz sowie subjektiv empfundene Bedrohung und Angst zu mindern.19
Depression ist eine weitere psychische Diagnose, die im Zusammenhang mit Bewegung als therapeutische Maßnahme umfassend untersucht worden ist. Während Bewegung von geringer Intensität nicht geeignet ist, Symptome von Depressionen zu lindern, kann aerobes Training im Rahmen der WHO-Empfehlungen bei Menschen mit einer leichten bis mittelgradigen Depression helfen.20 Ein Hindernis besteht darin, dass Patienten während einer depressiven Episode in der Regel sehr müde und antriebslos sind, was die meisten davon abhält, regelmäßig in einem Maß zu trainieren, das ihre Symptome signifikant lindern würde. Insgesamt sprechen die Daten einer umfangreichen Studie mit immerhin 1,2 Millionen Probanden dafür, dass Sport und Bewegung die subjektiv empfundene psychische Belastung von Personen, die schon eine depressive Episode erlebt haben, mindert (um bis zu 34,5 %). Diese Verbesserung reicht jedoch noch immer nicht aus, um das Maß an psychischer Entlastung zu erreichen, das Menschen angeben, die noch nie von einer Depression betroffen waren – selbst, wenn diese keinen Sport treiben.21
Die Herzfrequenzvariabilität und ihre Auswirkungen auf die psychische Gesundheit
Wir haben uns bereits mit der positiven Wirkung befasst, die Sport und Bewegung auf das Herz-Kreislauf-System und besonders die Herzfrequenzvariabilität (HRV) haben kann. Es besteht nachweislich ein direkter Zusammenhang zwischen der HRV und dem Vagustonus22, also der allgemeinen Aktivität des parasympathischen Nervensystems, das aktiviert wird, wenn sich ein Mensch sicher und ruhig fühlt, etwa nach Wegfallen eines Stressfaktors. Eine höhere HRV ist grundsätzlich besser für die psychische Gesundheit und die Lebenserwartung.23 Umgekehrt haben Studien gezeigt, dass depressive Patienten einen signifikant niedrigeren HRV-Wert haben, der in einem linearen Zusammenhang zum Schweregrad der Depression steht.24 Auch wenn die Behandlung mit Antidepressiva die generelle Symptombelastung mindern kann, bleibt die kardioprotektive Wirkung aus, sodass die HRV auch nach Abklingen einer depressiven Episode beeinträchtigt bleibt. Da sich zudem ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der HRV und der Gesamtsterblichkeit feststellen lässt, sollten Betroffene während einer depressiven Episode neben der pharmakologischen Behandlung weitere therapeutische Maßnahmen in ihren Alltag integrieren, um ihre Lebenserwartung und die Symptombelastung langfristig zu verbessern, zum Beispiel durch Sport und Bewegung. Auch bei PTBS-Patienten wurde unabhängig von der Art des erlebten Traumas eine verringerte HRV festgestellt.25 Einige Studien deuten darauf hin, dass Biofeedback und die Stimulation des Vagusnervs neben dem bereits erwähnten Sportprogramm, zur Verbesserung der HRV beitragen können.26
Gibt es ein optimales Bewegungspensum?
Eine Frage, die wir noch nicht beantwortet haben, ist, wie genau Sport die psychische Belastung verringern. Die Antwort darauf ist umfangreich: Durch erhöhte Neuroplastizität, Neurogenese und Angiogenese steigert Bewegung die motorische Kontrolle, kognitive Funktion, Lebensqualität und sichert das Bewältigen von Aktivitäten des täglichen Lebens.27 All diese Faktoren wirken sich positiv auf die psychische Gesundheit aus und fördern die Fähigkeit, mit steigendem Alter eine aktive und gesunde Lebensweise beizubehalten. In der Versicherungsbranche sind diese Aspekte von Interesse, wenn es um Invaliditätsprodukte sowie um die Sterblichkeit der versicherten Bevölkerung geht. Ein guter Ausgangspunkt könnte es deshalb sein, Antragsteller nach ihren Sportgewohnheiten zu befragen. Doch gibt es ein optimales Sportpensum? Wissenschaftliche Studien weisen darauf hin, dass mehr als sechs Stunden Sport pro Woche in Verbindung mit einer Verschlechterung der psychischen Gesundheit steht.28 Während eine Stunde Sport pro Woche nachweislich einen lang anhaltenden positiven Einfluss auf depressive Symptome hat, scheinen zwei bis sechs Stunden für die meisten Menschen das optimale Maß an Bewegung zu sein. Selbstverständlich ist dies ein Durchschnittswert, der aus einer großen Zahl von Menschen ermittelt wurde, und einige besonders aktive Menschen erreichen ihr Optimum erst, wenn sie mehr Sport treiben. Wichtig zu beachten ist jedoch auch, dass bei Menschen, die exzessiv Sport treiben, nachweislich Entzugserscheinungen wie erhöhte Reizbarkeit und Frustration auftreten, wenn sie ihr gewohntes Trainingspensum nicht erreichen.29 Auch wenn die Sportsucht in der aktuellen Ausgabe des DSM nicht aufgeführt wird, ist dieses Phänomen nicht unbekannt und sollte bei der Befragung von Antragstellern nach ihrem Bewegungspensum berücksichtigt werden, um den entsprechenden Rückgang der HRV und Sterblichkeit sowie die Verbesserung der allgemeinen psychischen Gesundheit im Rahmen der versicherungstechnischen Risikobeurteilung abzuschätzen.
Was nützt uns all dieses Wissen im Versicherungskontext?
Um diese Frage zu beantworten, nehmen wir als Beispiel wieder unsere 40 Jahre alte Antragstellerin. Diesmal gibt sie jedoch an, in der Vergangenheit mehrfach an mittelgradigen depressiven Episoden gelitten zu haben. Ihre letzte Episode liegt eineinhalb Jahre zurück, und sie geht regelmäßig zur Psychotherapie. In diesem Fall würde ihre Risikoeinschätzung und der damit verbundene Zuschlag niedrig ausfallen. Normalerweise müssen Antragsteller keine Fragen nach ihrem Sportprogramm beantworten – diese Informationen stehen Risikoprüfern also nicht zur Verfügung. Und selbst wenn sie vorhanden wären, würde das Trainingspensum je nach Krankheitsphase und Schwere der Symptomatik schwanken. Würden dagegen verlässliche HRV-Daten z. B. von einem Wearable vorliegen, könnte man über eine geringfügige Beitragssenkung nachdenken, sofern die HRV im normalen Bereich liegt.
Ideen für die Risikoprüfung der Zukunft
Für bestimmte außergewöhnliche Sportrisiken müssen Versicherer aufgrund erhöhter Lebens- oder Invaliditätsgefahren einen Risikozuschlag berechnen. So ist jemand, der Base-Jumping betreibt, vermutlich fitter als jemand, der gar nicht sportlich aktiv ist. Dennoch ist diese Sportart mit einem erhöhten Risiko von tödlichen Unfällen verbunden, sodass es in diesem Fall schwierig ist, allein die Vorteile der körperlichen Aktivität zu evaluieren. Andererseits bestünde eventuell die Möglichkeit, Bonuspunkte zu vergeben, wenn Versicherte mit bestimmten gesundheitlichen Komplikationen wie einem hohen BMI oder hohem Nüchternblutzucker nachweislich körperlich aktiv sind. Es wäre nützlich und notwendig, Fragebögen um Fragen nach regelmäßiger sportlich-körperlicher Aktivität im Verhältnis zu den allgemeinen Bewegungsempfehlungen zu ergänzen. Bei bestimmten psychischen Erkrankungen kann Bewegung eine wertvolle ergänzende Maßnahme sein und das Abfragen von Sportgewohnheiten könnte hier eine wertvolle Ergänzung sein, auch wenn die Angaben aufgrund der Subjektivität stets mit Vorsicht zu betrachten sind. Die Messung des HRV würde helfen, den Gesundheitszustand von Personen mit bestimmten (psychischen oder körperlichen) Vorerkrankungen besser einzuschätzen, um ihnen potenziell günstigere Versicherungsprodukte anzubieten. Letztlich muss auch in der Risikoprüfung berücksichtigt werden, dass Körper und Psyche eine Einheit bilden und nicht voneinander zu trennen sind.