Die Zahl der Rechtsanwälte,1 die bei privaten Berufsunfähigkeitsversicherern Leistungen beanspruchen, ist sicherlich als gering zu bezeichnen. Wenn allerdings ein Anspruch angemeldet wird, stellt sich primär immer die Frage der Nachvollziehbarkeit des geschilderten Berufsbildes. Im ersten Teil dieses Beitrages soll deshalb die aktuelle Situation und das Profil des Rechtsanwaltsberufs in Deutschland im Fokus stehen. Daran schließt sich im zweiten Teil ein kurzer Ausblick darauf an, wie das Überthema „Digitalisierung“ den Anwaltsmarkt in den nächsten Jahren tangieren und vermutlich verändern wird – und vor allem, ob dadurch Einflüsse auf die Leistungsprüfung zu erwarten sind. Der Beitrag versucht also, Leistungsprüfern eine solide berufskundliche Einschätzung des Tätigkeitsfeldes von Rechtsanwälten zu ermöglichen.
Zahlen, Daten, Fakten
Am 01.01.2019 gab es in Deutschland insgesamt 166.365 zugelassene Rechtsanwälte, von denen etwas mehr als 35 % Frauen (42 % der Rechtsanwältinnen arbeiteten in Teilzeit) waren. Knapp 90 sind als Rechtsanwälte tätig, 10 % sind sogenannte Syndikus-Rechtsanwälte, also vereinfacht gesagt, bei Unternehmen als Rechtsanwalt angestellt. Der Anteil der Rechtsanwälte, die zudem für eines oder mehrere rechtliche Fachgebiete spezialisiert sind, die also auch Fachanwälte sind, beträgt 27,16 %. Etwa 40 % der deutschen Rechtsanwälte sind auch heute noch in einer Einzelpraxis tätig. Viele von ihnen sind in ihrer Rolle auch sogenannte „Landanwälte“ – das anwaltliche Pendant zum Landarzt. 29 % der deutschen Rechtsanwälte versorgen nämlich 60 % der Bevölkerung in der Fläche mit Rechtsdienstleistungen.2
Einkommen von Rechtsanwälten – selbstständige Rechtsanwälte
Im Jahr 2016 erzielten in Deutschland tätige Vollzeitrechtsanwälte einen durchschnittlichen persönlichen Honorarumsatz aus selbstständiger Tätigkeit von 195.000 €. Vollzeitrechtsanwältinnen hingegen konnten nur 142.000 € umsetzen. Der daraus folgende durchschnittliche persönliche Überschuss (Einnahmen nach Abzug der Kosten) aus selbstständiger Tätigkeit bei vollzeitbeschäftigten Rechtsanwälten lag im Jahr 2016 bei 94.000 € brutto. Der persönliche Überschuss bei Rechtsanwälten lag im Schnitt bei 104.000 €, während Rechtsanwältinnen nur auf 65.000 € im Jahr kamen.
Interessant: Das Alter der Rechtsanwälte spielt eine relevante Rolle bei der Höhe des persönlichen Überschusses. Die 50-bis 65-jährigen Vollzeitrechtsanwälte wiesen einen persönlichen Überschuss von durchschnittlich 98.000 € auf, während die Rechtsanwälte zwischen 40 und 50 Jahren auf 90.000 € jährlich kamen und die unter 40-Jährigen 63.000 € erzielten. Daneben ist auch die regionale Komponente – Sitz der Kanzlei – von entscheidender wirtschaftlicher Bedeutung. In Westdeutschland erzielen Vollzeitrechtsanwälte beispielsweise in Großstädten ab 500.000 Einwohnern einen persönlichen Überschuss von 176.000 € jährlich und damit deutlich mehr als ihre Kollegen in Ostdeutschland von. 124.000 €. Im Rahmen der Leistungsprüfung sollte auch dieser Umstand beachtet werden.
Der Einzelanwalt erzielte 2016 einen Überschuss von 71.000 €, während in Sozietäten selbstständig tätige Vollzeitrechtsanwälte 133.000 € realisierten. Das macht klar, dass auch die Kanzleigröße und -struktur einen deutlichen Einfluss auf das berufliche Einkommen von Rechtsanwälten haben.3
Einkommen von Rechtsanwälten – angestellte Rechtsanwälte
Das durchschnittliche Bruttoeinkommen von angestellten Rechtsanwälten im Jahr 2016 betrug 67.000 €. In Vollzeit beschäftigte Rechtsanwälte kamen auf durchschnittlich 74.000 €, Rechtsanwältinnen nur auf 54.000 €. Interessant ist dabei, dass mit zunehmender Wochenarbeitszeit auch das durchschnittliche Bruttoeinkommen stieg. Bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 40 bis 49 Stunden kamen angestellte westdeutsche Rechtsanwälte auf ein Bruttoeinkommen von 53.000 €, ostdeutsche auf ein Einkommen von 36.000 €. Bei einer Wochenarbeitszeit von 50 bis 59 Stunden betrug das Bruttoeinkommen im Westen 88.000 € und im Osten 43.000 €. Bei Arbeitszeiten über 59 Stunden pro Woche erzielte ein vollzeitbeschäftigter Rechtsanwalt im Westen 121.000 € und im Osten sogar nur 38.000 € (in dieser Stichprobe).4
Arbeitszeiten von Rechtsanwälten
Das Klischeebild des Rechtsanwaltes ist sicherlich, dass er vor Gericht, bevorzugt als Strafverteidiger, seine Mandanten vertritt. In der Berufspraxis der meisten Rechtsanwälte hat die Arbeitszeit vor Gericht allerdings keine überragende Bedeutung mehr. Vielmehr stellt sich der typisierte Arbeitsalltag in einer exemplarischen Arbeitswoche wie folgt dar:
- 42 % Aktenbearbeitung
- 21 % Mandantengespräche
- 11 % Besprechung/Telefonate mit Dritten
- 11 % Auftreten vor Gericht
- 8 % Kanzleimanagement
- 5 % Fortbildung
- 2 % Sonstiges
Die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit von in Vollzeit tätigen Rechtsanwälten liegt bei 50 Stunden, sodass die gerichtliche Tätigkeit de facto nur etwa 5,5 Stunden pro Woche, Besprechungen 16 Stunden und die Aktenarbeit 21 Stunden ausmachen. Rechtsanwälte in mittleren Kanzleien (2 bis 5 Rechtsanwälte) sind deutlich häufiger vor Gericht (25 % mehr ihrer Arbeitszeit) als Berufskollegen aus kleinen oder größeren Kanzleien. Angestellte Rechtsanwälte verwenden etwa 20 % mehr ihrer Arbeitszeit auf Aktenarbeit, dies geht zulasten von Mandantengesprächen und der Wahrnehmung von Gerichtsterminen. Der Außenauftritt gegenüber Mandanten und vor Gericht einer Kanzlei wird demnach offenbar häufiger durch den/die Kanzleiinhaber persönlich wahrgenommen. Die Aktenarbeit im Hintergrund erledigen dagegen tendenziell eher angestellte Rechtsanwälte. Das erscheint marketingseitig und betriebswirtschaftlich sinnvoll und nachvollziehbar.
Eine Kanzlei, die Unternehmer/Unternehmen vertritt, tritt statistisch weniger vor Gericht auf und hat weniger Mandantenbesprechungen, dafür ist der Anteil von Besprechungen mit Dritten und die Arbeitszeit, die auf Aktenbearbeitung fällt, überdurchschnittlich hoch.5
Versorgungssituation bei Berufsunfähigkeit
Alle Rechtsanwälte sind im Regelfall Mitglieder eines berufsständischen Versorgungswerks, welches auch bei Berufsunfähigkeit Leistungen erbringt. Am Beispiel des Versorgungswerks der Rechtsanwälte im Land Nordrhein-Westfalen betrachtet: Nach § 18 der Satzung wird eine Berufsunfähigkeitsrente gewährt, wenn das Mitglied aufgrund einer gesundheitlichen Beeinträchtigung auf Zeit oder auf Dauer nur noch in der Lage ist, im Durchschnitt weniger als drei Stunden täglich anwaltlich tätig zu sein. Die Leistungsvoraussetzungen für Berufsunfähigkeit dieses großen Versorgungswerks orientieren sich also eher am aktuellen Modell der gesetzlichen Erwerbsminderungsrente als an der privatversicherungsrechtlichen Ausgestaltung des Berufsunfähigkeitsschutzes.
Wichtig ist: Es wird zwar keine 100 %ige Berufsunfähigkeit gefordert – dies hört man immer wieder fälschlicherweise –, jedoch reicht eben eine 50 %ige Berufsunfähigkeit, wie sie typischerweise in der privaten Berufsunfähigkeitsversicherung als Leistungsauslöser versichert ist, auch nicht aus, um bei diesem Versorgungswerk eine Berufsunfähigkeitsrente zu erhalten. Ergänzend: Zwingende Voraussetzung ist dort zudem – ebenfalls anders als im privatversicherungsrechtlichen Kontext –, dass der Rechtsanwalt seine berufliche Tätigkeit einstellt oder eingestellt hat.
Von 36.788 Mitgliedern des Versorgungswerks der Rechtsanwälte im Land Nordrhein-Westfalen (Stand 31.10.2018) erhielten 313 Rechtsanwälte Berufsunfähigkeitsleistungen des Versorgungswerks, mithin weniger als 1 % der Mitglieder.
Berufsunfähigkeit vor Gericht
Gerichtliche Auseinandersetzungen über das Vorliegen von Berufsunfähigkeit – sowohl privatversicherungsrechtlich als auch versorgungsrechtlich – sind eher selten. Manchmal entsteht trotzdem Streit. Drei Beispielsfälle seien an dieser Stelle kurz vorgestellt:
- Dass die Leistungsvoraussetzungen für eine Berufsunfähigkeitsrente bei einem Versorgungswerk wohl strenger sind als bei einer privaten Berufsunfähigkeitsversicherung, zeigt eine Entscheidung des OVG Münster.6 Es stellte schon 2008 fest, dass das Berufsbild des Rechtsanwalts nicht auf Tätigkeiten vor Gericht beschränkt sei. Der Umstand, dass ein Rechtsanwalt aus psychischen Gründen nicht mehr in der Lage sei, vor Gericht aufzutreten und mit mehr als zwei Gesprächspartnern gleichzeitig zu kommunizieren, begründe nicht automatisch eine Berufsunfähigkeit. Der Beschluss ist auch insofern bemerkenswert, als er viele Ausführungen zum Berufsbild des Rechtsanwalts enthält, sodass eine Lektüre lohnenswert ist. Im Ergebnis sah das Gericht keinen Anspruch des Rechtsanwaltes gegen das Versorgungswerk, weil das anwaltliche Berufsrecht nicht voraussetze, dass der Rechtsanwalt bereit oder gesundheitlich dazu in der Lage sei, auch vor Gericht aufzutreten. Es gebe viele Teiltätigkeiten eines typischen Berufsbilds des Rechtsanwalts, die es ohne die Fähigkeit zum Auftritt vor Gericht und zum Kommunizieren mit mehr als zwei Gesprächsteilnehmern jedenfalls erlauben würden, mehr als nur unwesentliche Einkünfte zu erzielen (das war von der Satzung des Versorgungswerks als Leistungsvoraussetzung gefordert).
- Aus der Krankentagegeldversicherung ist eine Entscheidung des BGH7 bekannt, die die qualitative Komponente von Teiltätigkeiten des Berufsbilds des Rechtsanwalts in den Vordergrund stellt und deshalb durchaus auf die private Berufsunfähigkeitsversicherung übertragbar ist. Der unter einer Augenerkrankung leidende Rechtsanwalt hatte vorgetragen, dass ihm die Fähigkeit zum flüssigen Lesen und Durcharbeiten von Texten gesundheitsbedingt abhandengekommen sei. Der BGH stellt fest, dass die Fähigkeit zum flüssigen Lesen und Durcharbeiten von Texten regelmäßig Grundvoraussetzung für das Ausüben des juristischen Berufs als Rechtsanwalt ist und eine weitgehend erhaltene Lesefähigkeit deshalb unabdingbar sei. Nur so sei es dem Rechtsanwalt möglich, die umfassende Bearbeitung von Mandaten und die Vertretung des Mandanten sicherzustellen.
- Zu guter Letzt: In privatversicherungsrechtlichen Berufsunfähigkeitsverfahren von Rechtsanwälten sind, soweit bekannt, eher allgemeine Themen, z. B. zur Einstellungsmitteilung im Nachprüfungsverfahren8 oder zu sich widersprechenden medizinischen Gutachten9 – u. a. aus dem parallel geführten Versorgungswerksverfahren –, entschieden worden. Spezifisches und Interessantes zum Berufsbild des Rechtsanwalts findet sich dagegen nicht.
Der Rechtsanwalt von morgen – verändert die Digitalisierung die Rechtsberatung?
Fast jeder Bereich des privaten und beruflichen Lebens ist inzwischen durch die in den letzten beiden Jahrzehnten rasch voranschreitende Digitalisierung betroffen. Während im persönlichen und privaten Leben es heute noch möglich ist, bestimmte digitale Entwicklungen, etwa ausschließliches bargeldloses Bezahlen, nicht mitzumachen, ist es im beruflichen Kontext so, dass man sich den von den betriebswirtschaftlichen Notwendigkeiten und der Marktsituation vorgegebenen Entwicklungsschritten nicht entziehen kann.
Dies gilt natürlich auch für den Rechtsdienstleistungsmarkt. Dieser verändert sich selbstverständlich auch in Richtung digitalisierte Strukturen und Angebote – zumal die Kundschaft, die Verbraucher, selbst zunehmend digitaler in ihrer Lebenswirklichkeit unterwegs ist und dies auch Erwartungen an die Rechtsanwälte weckt. Seit einigen Jahren schon gibt es gewerbliche Angebote, die bestimmte, zuvor von Anwälten wahrgenommene Dienstleistungen, standardisiert und automatisiert haben. Häufig sind diese Dienstleister deutlich preisgünstiger im Markt unterwegs als die Rechtsanwaltschaft. Zwei Drittel der Rechtssuchenden wollen oder können aus Kostengründen nach Schätzungen keinen Rechtsanwalt in Anspruch nehmen.10 Die Anbieter erreichen also neue Zielgruppen, die bisher aus unterschiedlichen Gründen keine Rechtsberatung genossen haben. Stichworte wie Legal Tech, Smart Contracts oder Smart Law bezeichnen das Wirkungsfeld, in dem mit großen Datenmengen und standardisierten/automatisierten Anwendungen technisch unterstützte Rechtsberatung angeboten wird.
In Deutschland gibt es beispielsweise in diesen Rechtsbereichen Legal-Tech-Anbieter:
Legal Tech
Eine genaue und allgemeingültige Definition des Begriffes „Legal Tech“ gibt es bislang nicht. Grob wird unter Legal Tech jedoch jegliche juristisch nutzbare Software, die Dienstleistungen in der Rechtsbranche unterstützen soll, verstanden. Für Rechtsanwälte sind folgende Anwendungsfelder von besonderer Wichtigkeit:
- juristische Datenbanken
- Kanzleimanagementsysteme, -software und -apps
- Auslagerung von Rechtsprozessen (legal process outsourcing)
- Management von Rechtsprozessen (legal project management)
- Automatisierung von Dokumenten und künstliche Intelligenz
Aktuell sind juristische Recherchetools (wie beck online oder juris) und Kanzleimanagementsoftware (z. B. RA Micro, AnNo Text) „von der Stange“ in der Anwaltschaft am weitesten verbreitet. Das zeigt sich auch in einer aktuellen Umfrage aus 2018 (siehe dazu Abbildung 1).