Nach acht Monaten, in denen die deutsche Gesellschaft sowohl beruflich als auch privat Erfahrungen mit den Auswirkungen der Pandemie gesammelt hat, lässt sich eine erste Bilanz für das Jahr 2020 ziehen.1
Erfreulich aus Leistungsprüfersicht: Es gibt nach wie vor keinen Anlass zur Unruhe.
Für die Leistungsprüfung bei biometrischen Versicherungsprodukten, insbesondere in der Lebens- und Berufsunfähigkeitsversicherung, sind nach heutigem Kenntnisstand keine grundlegenden Veränderungen und Herausforderungen durch COVID‑19 und dessen gesundheitliche Folgen zu erwarten. Die in der Praxis seit jeher eingeübten und bewährten Regulierungsverfahren und -maßstäbe sind auch für alle Fälle, die direkt oder indirekt mit COVID‑19 zusammenhängen, weiter gültig und lassen eine Leistungsprüfung in bisheriger Art und Weise zu.
Sind Leistungsfälle aus der Berufsunfähigkeitsversicherung wegen COVID‑19 zu erwarten?
In den meisten Verträgen ist zwischenzeitlich ein Prognosezeitraum von „voraussichtlich mindestens sechs Monaten“ vereinbart, der den Leistungsfall überhaupt erst auslösen kann.
Nachdem die weltweite medizinische Community nunmehr seit Beginn dieses Jahres die Möglichkeit hatte, sich auch mit den Langzeitfolgen von COVID‑19-Erkrankungen zu befassen, scheint zunehmend klarer zu werden, dass der individuelle Krankheitsverlauf in wenigen Einzelfällen nach einer COVID‑19-Infektion sehr schwer und damit massiv leistungseinschränkend sein kann.
Zu den gesundheitlichen Langfristdefiziten nach ausgeheilter Infektion gehören neben Atemnot, Müdigkeit auch Brust- und Gelenkschmerzen. Auch das zentrale Nervensystem, das Gehirn, die Nieren und das Herz können betroffen sein. Gedächtnisprobleme, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsschwierigkeiten werden immer wieder berichtet.2
Ein genaues Zuordnen der Einschränkungen des positiven Restleistungsvermögens eines Versicherten3 auf etwaige Vorerkrankungen sowie die genauen gesundheitlichen Einschränkungen, die komplementär allein durch COVID‑19 ausgelöst sind, wird in der Praxis nicht möglich sein. Besonderem Risiko sind nach derzeitigem Erkenntnisstand ausgesetzt:
- ältere Personen (mit stetig steigendem Risiko für schweren Verlauf ab etwa 50 – 60 Jahren; 86 % der in Deutschland an COVID‑19 Verstorbenen waren 70 Jahre alt oder älter [Altersmedian: 82 Jahre])
- männliches Geschlecht
- Raucher (schwache Evidenz)
- stark adipöse Menschen
- Personen mit bestimmten Vorerkrankungen, ohne Rangfolge:
- des Herz-Kreislauf-Systems (z. B. koronare Herzerkrankung und Bluthochdruck)
- chronische Lungenerkrankungen (z. B. COPD)
- chronische Nieren- und Lebererkrankungen
- Patienten mit Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit)
- Patienten mit einer Krebserkrankung
- Patienten mit geschwächtem Immunsystem (z. B. aufgrund einer Erkrankung, die mit einer Immunschwäche einhergeht, oder durch die regelmäßige Einnahme von Medikamenten, die die Immunabwehr beeinflussen und herabsetzen können, wie z. B. Cortison)4
Im Zusammenspiel mit anderen – unter Umständen schon vor der Pandemie bestehenden – gesundheitlichen Beeinträchtigungen kann es deshalb durchaus zu Konstellationen kommen, die eine Leistungspflicht aus der Berufsunfähigkeitsversicherung auslösen. Besonderer Prüfungssorgfalt bedürfen Frühschäden, insbesondere die Schäden, bei denen die Beantragung des Versicherungsschutzes in 2020 liegt. Mögliche vorvertragliche Anzeigepflichtverletzungen sind zu klären.
Sind Leistungsfälle aus der Lebensversicherung wegen COVID‑19 zu erwarten?
Eine COVID‑19-Erkrankung kann bei schweren Verläufen bekanntermaßen in allen Altersbereichen zum Tod führen. Wenn dann Lebensversicherungsschutz besteht, liegt ein Leistungsfall vor. Allerdings waren bisher nur 14 % der Verstorbenen unter 70 Jahre (siehe oben). Wenn dann (noch) Lebensversicherungsschutz besteht, liegt ein Leistungsfall vor. Bisher hat es nach unseren Erkenntnissen in der deutschen Lebensversicherung erst sehr wenige durch COVID‑19 verursachte Todesfälle gegeben. Es sind keine besonderen leistungsprüferischen Maßnahmen, die sich von der sonst üblichen Praxis unterscheiden, erforderlich, um diese Leistungsfälle in der Lebensversicherung zu regulieren.
Jedoch gilt auch hier: Intensives Augenmerk ist auf Frühschäden zu legen.
Sind Leistungsfälle aus anderen biometrischen Versicherungsprodukten wegen COVID‑19 zu erwarten?
Entsprechend der jeweiligen Leistungsauslöser sind natürlich auch Leistungsfälle aus anderen biometrischen Produkten (Grundfähigkeit, schwere Krankheiten, Pflege) möglich. An die Leistungsprüfung sind insoweit allerdings keine besonderen Maßstäbe anzulegen, die nicht ohnehin in der Praxis bewährt und bekannt wären.
Wie sieht es bei Verträgen mit einer Infektionsschutzklausel aus?
In den letzten Monaten kam es in Deutschland bisher nur zu zwei zeitlich befristeten – im Vergleich zu anderen europäischen Ländern kurzen und sogar vergleichsweise milden – Lockdowns der Wirtschaft (im März/April und im November 2020). Die Grundvoraussetzung des Eingreifens der Infektionsschutzklausel zugunsten von Versicherten kommt schon wegen des Nichterreichens des erforderlichen Zeitmoments „… mindestens sechs Monate“ derzeit nicht in Betracht.
Angesichts der auffällig vielgestaltigen und unternehmensindividuellen Ausprägung von Infektionsschutzklauseln in der Lebensversicherungslandschaft sei der Hinweis erlaubt, dass allgemeine Versicherungsbedingungen nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs so auszulegen sind, wie ein verständiger Versicherungsnehmer ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse sie bei aufmerksamer Lektüre versteht. Einschränkungen des Leistungsversprechens sind ihm deutlich vor Augen zu führen.5 An dieser Maßgabe sind auch alle Einzelfälle – es werden ganz sicher nur sehr vereinzelte Konstellationen überhaupt zur Prüfung kommen – zu messen.
Falls es dann jedenfalls möglich erscheint, die Klausel so zu verstehen, dass Deckung versprochen ist, sollte der Versicherer, dessen Erfolg maßgeblich auf dem Vertrauen seiner Kunden basiert, mit Augenmaß und kundenorientiert agieren.
Werden neurologische und psychische Erkrankungen durch COVID‑19 vermehrt auftreten?
Bei schweren Verläufen nach einer COVID‑19-Infektion gibt es Anzeichen dafür, dass auch das Hirn von den Entzündungsprozessen betroffen sein kann. Folge können vielfältige neurologische Erkrankungen sein.6 Zu den möglichen langfristigen Auswirkungen für die Betroffenen wird derzeit weltweit intensiv geforscht.
Natürlich hat die Pandemie auch psychische Folgen, die die für alle völlig neue Lebenssituation auf gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene auslöst. Dies birgt das Risiko der Zunahme und Chronifizierung etwa von Angststörungen, Zwängen, Anpassungs- und somatoformen Störungen. Auch Depressionen, Burnout und PTBS können vermehrt auftreten.
Das bekannte Prüfungsprozedere wird sich allerdings nicht ändern. Es geht weiter um eine möglichst valide und zielgenaue Feststellung dessen, was gesundheitlich genau eingeschränkt ist und wie groß das verbliebene positive Restleistungsvermögen mit Blick auf den zuletzt ausgeübten Beruf noch ist. Besonderer Wert ist auf die Betrachtung des Gesundheitsgeschehens aus gutachterlicher Perspektive zu legen. Die häufig anzutreffende Einschätzung aus Sicht des Behandlers verspricht deutlich weniger objektivierbare Erkenntnisse.
Welche Branchen und Berufe7 sind besonders betroffen?
Als Beispiel für eine besonders betroffene Branche ist zum einen die Veranstaltungsbranche, die in Gänze um ihr wirtschaftliches Überleben kämpft und bisher wenig Aussicht auf Verbesserung ihrer Wirkungsmöglichkeiten erwarten darf, zu nennen, zum anderen allerdings auch das Gastgewerbe. Dort sehen sich im August 2020 fast 60 % der befragten Betriebe in ihrer Existenz gefährdet. Fast 80 % der Betriebe haben Kurzarbeitergeld beantragt. Für das Gesamtjahr 2020 rechnen die Betriebe mit einem Umsatzrückgang im Schnitt von mindestens 51 %. Diese drastischen Umsatzeinbrüche haben auch damit zu tun, dass aufgrund der Abstandsgebote durch die staatlichen Verordnungen die Kapazität der Betriebe durchschnittlich um über 40 % eingeschränkt ist.8 Trotz faktischer Betriebsöffnung und Berufsfreiheit limitieren die Rahmenbedingungen mithin die wirtschaftliche Prosperität. Gleiche Effekte wegen erhöhter Hygiene- und Abstandsanforderungen lassen sich auch bei anderen personennahen Dienstleistungen, wie etwa dem Friseurgewerbe, feststellen.
All dies kann natürlich dazu führen, dass sich Zukunftssorgen und Existenzängste verstärken: Dies wird auch zu einem Anstieg psychischer Erkrankungen führen. Zwar ist bisher noch nicht untersucht, wie sich wirtschaftliche Krisen speziell durch Pandemien auf die psychische Gesundheit der Bevölkerung auswirken, wahrscheinlich sei jedoch – so die Bundespsychotherapeutenkammer –, dass Depressionen, Angststörungen sowie Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit zunehmen werden.9 Für die Finanzkrise 2008 sei im Jahr 2019 in einer Studie (Forbes/Krueger) jedenfalls gezeigt worden, dass Personen, die stark unter der Krise gelitten und zum Beispiel ihre Arbeit oder ihre Wohnung verloren hatten, verstärkt unter Depressionen, Angst und Panikattacken litten.10 Wenn die Annahmen richtig sein sollten, ist sicher auch der ein oder andere Leistungsantrag aus dieser Richtung zu erwarten, denn wirtschaftliche Not, Insolvenz bei Selbstständigen und Arbeitslosigkeit bei Angestellten sind ein Nährboden für psychische Erkrankungen.
Das irgendwann ja einmal notwendige Ende von staatlichen Stützungsmaßnahmen jeglicher Art wird sicherlich noch einmal eine Verschärfung der wahrgenommenen Notlage bringen.
Ein Beispiel: Durch die staatlichen Schutzmaßnahmen gegen die Pandemie ist es zum Beispiel gelungen, die Zahl der insolventen Unternehmen im ersten Halbjahr 2020 gegenüber der im Vorjahr zu verringern. Dies überrascht auf den ersten Blick. Hintergrund ist, dass Unternehmen, die wegen der Pandemie in Zahlungsschwierigkeiten geraten sind, derzeit von der Pflicht befreit sind, sich bei Gericht zu melden und ein Insolvenzverfahren anzustoßen.
Derzeit läuft diese Möglichkeit, von einer Insolvenzanzeige abzusehen, bis zum 31.12.2020. In der Politik wird derzeit intensiv über weitergehende Erleichterungen – insbesondere einen gelockerten Maßstab der Überschuldungsprüfung – ab dem 01.01.2021 diskutiert.11 Schon jetzt wird vermutet, dass 15 % aller Unternehmen sogenannte „Zombie“-Unternehmen sind, die eigentlich keine wirtschaftliche Existenzberechtigung am Markt mehr hätten.
Bei Leistungsanträgen, bei denen ein Versicherter aus dieser Grundsituation kommt, ist natürlich genau darauf zu achten, dass eine etwaige Berufsunfähigkeit „infolge Krankheit, Körperverletzung oder mehr als altersentsprechendem Kräfteverfall“ ausgelöst ist und nicht durch wirtschaftliches Missmanagement. Insbesondere bei der Prüfung von etwaigen Berufsunfähigkeitsansprüchen Selbstständiger wird ab Herbst 2020 und insbesondere in den Jahren 2021/2022 immer genau zu klären sein, was Ursache und Wirkung ist.
Gibt es auch Branchen und Berufe, die in der Krise besonders profitieren?
Auf der Kehrseite der Medaille ist allerdings zu konstatieren, dass es auch Berufszweige und Branchen gibt, in denen die Pandemiesituation genau den umgekehrten Effekt hat. So sind natürlich viele Anbieter im E-Commerce, etwa der Branchenriese „Amazon“, Krisengewinner. Steuerberater, Fahrradproduzenten und -händler, aber auch das Handwerk sind bisher gut und teilweise sogar besser als in „Vor-Corona-Zeiten“ durch die Pandemiesituation gekommen. Aber auch hier kommt es auf die Details an: Während im Tischlerhandwerk die Situation für die Messebauer sehr schwierig ist, können Betriebe im Innenausbau häufig ein Auftragsplus vermelden.
Was bleibt als allgemeines Fazit für dieses Update?
Die Leistungsprüfung wird durch die Pandemie und ihre Auswirkungen nicht verändert.
Dem Grundsatz „Beruf/Verdienst vor Medizin“ weiter zur Geltung zu verhelfen, wie dies § 172 VVG und die ständige höchstrichterliche Rechtsprechung verlangt, ist ein richtiges und zugleich wirkungsvolles Instrument, um berechtigte und unberechtigte Leistungsansprüchen zu unterscheiden. Dies bleibt auch in der Pandemiezeit eine unumstößliche Notwendigkeit, um für die Gemeinschaft aller Versicherten zu fairen und richtigen Leistungsentscheidungen zu kommen.