Anfang des Jahres meldeten Forscher des Universitätsklinikums Heidelberg die Entwicklung eines Bluttests, mit dem Brustkrebs zuverlässiger erkannt werden könne als durch Mammographie. Ungefähr zur selben Zeit gab es Berichte, denen zufolge zwei am HI-Virus Erkrankte geheilt werden konnten - eine medizinische Sensation, die zuvor nur ein einziges Mal in 2007 gelungen war. Im März 2019 wurde die Entwicklung eines neuen Impfstoffs gegen Ebola verkündet, der aus den Antikörpern eines Überlebenden gewonnen wurde.
Der medizinische Fortschritt steht nicht still und vollzieht sich im 21. Jahrhundert in einem beispiellos hohen Tempo. Neue Ansätze in der Prävention, Diagnose und Behandlung wecken die Hoffnung, dass manch schwerwiegendes Krankheitsbild bald der Vergangenheit angehören könnte. Zumindest besteht die Aussicht auf eine frühzeitigere Erkennung und eine individueller zugeschnittene Behandlung, was hoffen lässt, dass sich die Überlebenschancen selbst bei bislang tödlich verlaufenden Krankheiten erhöhen.
Wie aber spiegeln sich solche Fortschritte in der medizinischen Risikoprüfung wider? Können angesichts dieser rasanten Entwicklung die Risikoprüfungs-Richtlinien regelmäßig angepasst werden, um günstigeren Prognosen Rechnung zu tragen, und in immer mehr Fällen eine Annahme zu normalen (medizinischen) Bedingungen vorsehen?
Erste Priorität: eine solide Grundlage für die medizinische Forschung schaffen
Risikoprüfungs-Richtlinien folgen den Grundsätzen des evidenzbasierten Underwriting (EBU). Dieses ist an das Konzept der evidenzbasierten Medizin (EBM) angelehnt und baut auf ihr auf.
Das Ziel der EBM besteht darin, alle medizinischen Publikationen systematisch auszuwerten, um wissenschaftlich valide Forschungsergebnisse verfügbar zu machen. In diesem Zusammenhang muss jedoch betont werden, dass die hierarchische Klassifizierung nach Evidenzart lediglich den Aufbau einer medizinischen Studie widerspiegelt und keine Aussage über ihren Inhalt trifft.
Der Inhalt oder die Forschungsfrage einer Studie kann durchaus von begrenztem Nutzen sein, selbst wenn die Studie im Rahmen der Klassifizierung hoch eingestuft wird. Die fachspezifische Bewertung wissenschaftlicher Erkenntnisse und deren Konsequenzen für die Diagnose, Therapie und Prognose einer Krankheit setzt viel klinische Erfahrung und eine breite Koordinierung voraus. Ohne fundierte Kenntnisse der internen und externen Validität lässt sich nicht beurteilen, ob eine klinische Studie „gut“ ist.
Um den Wert und Nutzen einer Studie zu beurteilen, müssen einige grundsätzlichen Fragen beantwortet werden:
- Ist die Zahl der Probanden ausreichend hoch?
- Ist der Beobachtungszeitraum lang genug?
- Wie viele Probanden haben die Studie abgebrochen?
- Waren die angewendeten Methoden geeignet und zielgerichtet?
Von der medizinischen Forschung zur Risikoprüfung - mit Sorgfalt die richtigen Schlussfolgerungen ziehen
Evidenzbasiertes Underwriting hat sich auf der Grundlage der evidenzbasierten Medizin entwickelt, um die bestmögliche Risikoprüfung zu gewährleisten. Das erklärte Ziel lautet, dem Kunden ein faires, nichtdiskriminierendes Angebot mit einer risikoadäquaten Prämie zu unterbreiten. Dies wird erreicht, indem die neuesten validen Erkenntnisse über dieses Risiko aus dem klinischen Bereich genutzt werden.
Im Grunde nutzt evidenzbasiertes Underwriting dieselben Belege wie die evidenzbasierte Medizin. An die Auswahl relevanter Informationen sowie die Übertragung von Erkenntnissen aus der klinischen Forschung auf die Versicherungsmedizin werden hohe Anforderungen gestellt.
Zu den zahlreichen zu berücksichtigenden Faktoren gehören:
- Die untersuchte Probandengruppe und die Anwendbarkeit der Forschungsergebnisse auf die Zielgruppe der jeweiligen Versicherungsprodukte
- Die Reputation des Forschers und der Fachzeitschrift, in der die Studien veröffentlicht werden
- Der Hauptzweck der Untersuchung und die Übertragbarkeit des Studienaufbaus auf den Bereich der Versicherungsmedizin
- Der Auftraggeber der Studie und die Prüfung, ob das Studienziel gleichlaufend ist mit den Zielen der Risikoprüfungs-Richtlinien
Die Deutung dieser und weiterer Faktoren sowie die Anwendung medizinischer Forschungsergebnisse auf den Versicherungsbereich liegen in der Verantwortung einschlägiger Experten, in der Regel von Ärzten. Deren Expertise ist auch erforderlich, wenn es um die Festlegung von Risikoprüfungs-Richtlinien für Bereiche geht, zu denen keine klinischen Daten vorliegen, zum Beispiel bei seltenen Erkrankungen, bestimmten Altersgruppen und Kombinationen verschiedener Krankheiten.
Die Gefahr des fehlenden Plausibilitätschecks - voreilige Schlüsse vermeiden
Dass all diese Schritte wichtig sind, zeigt ein Blick auf die Realität medizinischer Forschungsergebnisse:
- Nur wenige Tage nach der Ankündigung des revolutionären Bluttests zur Brustkrebserkennung entschuldigte sich die Uniklinik Heidelberg öffentlich für die verfrühte und irreführende Veröffentlichung ihrer Forschungsergebnisse sowie die falschen Hoffnungen, die dadurch geweckt wurden.
- Die geheilten HIV-Infizierten gibt es zwar tatsächlich, ihre Heilung erfolgte jedoch unter sehr außergewöhnlichen und nicht ohne weiteres reproduzierbaren Bedingungen.
- Auch bzgl. Ebola bleiben die Aussichten düster: Seit dem Sommer 2018 wütet das Virus im Kongo. Bis März 2019 gab es mehr als 1.000 infizierte Menschen und mehr als 600 bestätigte Todesfälle.
Der heutige medizinische Fortschritt ist enorm und macht fast täglich Schlagzeilen. Aus den oben dargestellten Gründen braucht es jedoch Geduld, bis sich spektakuläre Fortschritte in - auch auf lange Sicht - belastbaren Risikoprüfungs-Richtlinien widerspiegeln.