Vor ca. 20 Jahren wurden die Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) der Berufsunfähigkeitsversicherung (BU) zum Gegenstand starken Wettbewerbs zwischen den Anbietern. Die Intensität des Wettbewerbs hat seither mal zugenommen, mal nachgelassen, und die im Fokus stehenden Themen haben sich gewandelt. Bis heute hält der Wettbewerb jedoch letztlich unvermindert an. Auch die laufende BU-Rechtsprechung sowie die Aktivitäten der Ratingagenturen sind dabei nicht ohne Einfluss.
Dieser Wettbewerb ist grundsätzlich zu begrüßen, bringt er es doch mit sich, dass die Anbieter die Bedürfnisse der Kunden in ihren unterschiedlichen Ausprägungen immer besser zu adressieren versuchen. Er führt auch dazu, dass das Thema der Arbeitskraftabsicherung in der Öffentlichkeit die nötige Aufmerksamkeit erfährt.
Gleichwohl sind die AVB zunächst wichtige Vertragsdokumente, in denen die Rechte und Pflichten der Versicherungsvertragsparteien möglichst klar und rechtssicher geregelt werden müssen.
Die AVB der BU bewegen sich also in einem gewissen Spannungsfeld der juristischen Anforderungen und solchen aus Marketingsicht. Um diese Anforderungen in der richtigen Balance zu halten, sollten die AVB der BU einer regelmäßigen Überprüfung unterzogen werden.
In diesem NetLetter greifen wir Regelungsinhalte und Formulierungen aus den AVB zum Deckungsumfang der BU auf, die uns in diesem Zusammenhang aufgefallen oder oftmals begegnet sind, und möchten damit dazu anregen, die eigenen AVB noch einmal mit kritischem Blick zu betrachten.
Schüler, Studenten und Hausfrauen/Hausmänner
Immer mehr Anbieter wollen ihren Kunden eine vollumfängliche Absicherung gewähren und bieten daher auch eine Absicherung von Schülern, Studenten und Hausfrauen/Hausmännern im Rahmen einer Berufsunfähigkeitsversicherung an. Die Ausgestaltung solcher Regelungen variiert zwischen den verschiedenen Marktteilnehmern sehr. Manche Anbieter stellen lediglich klar, dass die Tätigkeit als Schüler, Student und Hausfrau/Hausmann auch als versicherter Beruf im Sinne der BU-Definition gilt. Andere entwerfen umfassende Klauseln, die die jeweiligen Tätigkeiten genauer definieren.
Ausführlichere Tätigkeitsklauseln werden oftmals aus Gründen vermeintlicher Transparenz gewählt, doch sind sie auch nicht ohne Risiko.
Das Hauptrisiko einer solchen Klausel stellt ein möglicher Leitbildverstoß dar. Weicht die Tätigkeitsklausel in ihrer Beschreibung vom Leitbild der BU in § 172 Abs. 2 VVG ab, liegt für Schüler, Studenten und Hausfrauen/Hausmänner ein Leitbildverstoß vor, der sich auf die Leistungsprüfung auswirkt.
Ein weiteres Problemfeld ist insbesondere bei Studenten- und Auszubildendenklauseln der sogenannte Zielberuf. In einer Entscheidung stellt der BGH (Entscheidung vom 24.02.2010 – Az.: IV ZR 119/09) klar, dass in bestimmten Konstellationen der Zielberuf einer sich in der Ausbildung befindlichen Person im Rahmen der Leistungsprüfung einzubeziehen ist. Diese Entscheidung setzt aber keineswegs voraus, dass ein möglicher Zielberuf bei der Leistungsprüfung in allen Fällen zu berücksichtigen ist. Vielmehr ist in jedem Einzelfall zu prüfen, ob sich ein solcher Zielberuf bei der betroffenen Person bereits gefestigt hat und daher im Rahmen der Leistungsprüfung miteinbezogen werden kann.
Dies mag bei einem Lehramtsstudenten im letzten Semester durchaus der Fall sein, hingegen bei einem Medizinstudenten im ersten Semester wahrscheinlich eher nicht – zumal sich z. B. bei Studiengängen wie Medizin die Frage stellt, wie ein solcher Zielberuf auszusehen hat. Sind in diesen Fällen die benötigten körperlichen Fähigkeiten eines angehenden Handchirurgen oder eines Allgemeinmediziners zugrunde zu legen? Soll der Traumberuf mit den besten Verdienstmöglichkeiten zur Prüfungsgrundlage gemacht werden oder etwa der, der von den meisten Personen in gleicher Lebensstellung gewählt wird? All diese Fragen lassen sich nur schwer in einer allgemein gültigen Klausel, die den Anforderungen an die Transparenz genügt, beantworten und lösen.
Es gilt in diesen Fällen daher aus unserer Sicht „weniger ist manchmal mehr“. Mit einer Klausel, die lediglich klarstellt, dass die Tätigkeiten als Schüler, Studenten und Hausfrauen/Hausmännern zu den versicherten Berufen zählen, lassen sich die vorab aufgeführten Problemfelder vermeiden. Zudem wird es den Leistungsprüfern ermöglicht, nach den individuellen Gegebenheiten des Leistungsfalles und der individuellen Situation des Kunden zu regulieren.
Selbstständige
Die vermehrten Bemühungen, AVB sprachlich kundenfreundlicher und für den durchschnittlichen Versicherungsnehmer verständlicher zu gestalten, sind an sich zu begrüßen. Dabei ist allerdings besondere Sorgfalt zu empfehlen, beispielsweise bei der Definition vermeintlich unbestimmter Rechtsbegriffe wie dem des Selbstständigen.
Eine solche Definition soll anhand einer Auflistung von Kriterien aufzeigen, wann eine versicherte Person als selbstständig gemäß den AVB gilt. Sie lässt jedoch die Tatsache außer Acht, dass der Begriff „selbstständig“ auch sozialversicherungsrechtlich belegt ist. Wie soll daher mit Fällen umgegangen werden, in denen eine versicherte Person nach der Definition nicht als Selbstständiger im Sinne der AVB gilt, sozialversicherungsrechtlich aber schon? Wird sie dann wie ein nicht selbstständiger Arbeitnehmer geprüft? Benötigt man in diesen Fällen überhaupt eine Klarstellung? Meist wissen die Betroffenen doch selbst, ob sie – zumindest sozialversicherungsrechtlich – als selbstständig angesehen werden oder nicht. Unseres Erachtens gilt daher auch in diesen Fällen „weniger ist manchmal mehr“.
Anstatt eine zusätzliche Voraussetzung positiv zu formulieren, setzen manche Anbieter auf negative Definitionen, die aufzeigen sollen, in welchen Fällen Berufsunfähigkeit des Selbstständigen nicht vorliegen soll.
Hier ist zu beachten, dass durch eine negative Definition ein Ausschlusstatbestand formuliert wird, für den der Versicherer die Beweislast trägt. Für das Vorliegen zusätzlicher Voraussetzungen zum Leistungserhalt trägt jedoch meist der Versicherungsnehmer die Beweislast. Eine negative Definition kann folglich zu einer Beweislastumkehr führen.
Ein Beispiel hierfür ist bei manchen Anbietern die Klausel zur Umorganisation. Teilweise finden sich hier Formulierungen wie „Bei Selbstständigen und Freiberuflern liegt Berufsunfähigkeit nicht vor, (…), wenn umorganisiert werden kann.“ Dies stellt einen Ausschlusstatbestand dar, bei dem der Versicherer beweisen muss, dass die versicherte Person nicht umorganisieren kann. Wählt man hingegen eine positive Formulierung „Bei Selbstständigen und Freiberuflern setzt Berufsunfähigkeit (…) zusätzlich voraus, dass die versicherte Person (…) nicht umorganisieren kann.“, obliegt die Beweislast dem Versicherungsnehmer. Solche Feinheiten sollten den Anbietern bei der Wahl ihrer Definitionen stets bewusst sein.
Infektionsklausel
Viele Anbieter haben mittlerweile auch eine Infektionsklausel in ihren Bedingungen, mit denen sie speziell Ärzte und medizinisches Personal ansprechen möchten. In diesen Klauseln, die in ihren Details durchaus unterschiedlich formuliert sind, wird im Wesentlichen klargestellt, dass auch dann BU vorliegt, wenn die versicherte Person ihren Beruf aufgrund eines Tätigkeitsverbotes nicht mehr ausüben darf.
Für uns stellt sich die Frage, ob es sich hierbei wirklich um ein zusätzliches Leistungsversprechen handelt oder ob nicht vielmehr lediglich eine Klarstellung erfolgt, mithin BU in diesen Fällen auch ohne eine solche Klausel vorliegt.
Wenn wir keine Spezialklausel haben, müssen wir auf die BU-Definition in § 172 Abs. 2 VVG zurückgreifen. Dort ist Folgendes geregelt:
„Berufsunfähig ist, wer seinen zuletzt ausgeübten Beruf, so wie er ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ausgestaltet war, infolge Krankheit, Körperverletzung oder mehr als altersentsprechendem Kräfteverfall ganz oder teilweise voraussichtlich auf Dauer nicht mehr ausüben kann.“
Es kommt also bei der BU-Definition in § 172 Abs. 2 VVG darauf an, ob man seinen Beruf noch ausüben kann, wenn man es infolge der Infektion, bei der es sich um eine bedingungsgemäße Krankheit handelt, nicht mehr darf. Bedeutet „Können“ also nur das faktische Außerstandesein aus gesundheitlichen Gründen oder umfasst der Begriff in dieser Konstellation auch das rechtliche „Dürfen“?
Wir sind der Ansicht, dass mehr für letztere Auslegung spricht, denn für die versicherte Person ist es letztlich unerheblich, ob sie nicht mehr arbeiten darf oder es physisch nicht mehr kann. Im Ergebnis kann sie jedenfalls nicht mehr in ihrem zuletzt ausgeübten Beruf tätig sein und ein Einkommen erzielen.
Insofern liegt bei einem krankheitsbezogenen Tätigkeitsverbot von hinreichender Dauer unserer Ansicht nach auch bei Geltung der „normalen“ BU-Definition regelmäßig bedingungsgemäße BU vor, sodass eine solche Klausel lediglich der Klarstellung dient. Eine spezielle Infektionsklausel ist damit nicht erforderlich und muss auch nicht in die AVB aufgenommen werden, was diese kürzer und damit leichter lesbar macht.
Wenn man Ärzte und medizinisches Personal trotzdem gesondert ansprechen und ihnen deutlich machen möchte, dass sie im Fall einer Infektion eine Leistung bekommen können, kann man dies auch ohne spezielle AVB-Klausel im Werbe- oder sonstigen Informationsmaterial herausstellen. Auch eine Schulung des Vertriebs hinsichtlich dieses Aspekts kommt in Betracht.
Dienstunfähigkeit
Klauseln zur Dienstunfähigkeit erfreuen sich ebenfalls großer Beliebtheit. Und trotz der großen Bandbreite unterschiedlicher Formulierungen gilt: Durch sie wird meist geregelt, dass ein Beamter, der aufgrund seines Gesundheitszustandes dienstunfähig ist und in den Ruhestand versetzt wird, eine (BU-)Leistung erhält. Als Nachweis muss er in der Regel ein amtsärztliches Zeugnis und die Urkunde der Versetzung in den Ruhestand vorlegen.
Dies bedeutet, dass der Versicherer kein eigenes Prüfungsrecht hat, sondern die Einschätzung von Dienstherrn und Amtsarzt übernimmt. Kritisch kann es ansonsten insbesondere im Nachprüfungsverfahren werden, denn dieses darf nicht weiter gehen als die Erstprüfung, es dürfen also z. B. auch keine zusätzlichen Untersuchungen oder Unterlagen gefordert werden.
Dies gilt selbst bei Genesung des Kunden und Wiederaufnahme derselben Tätigkeit. Hier hilft eine konkrete Verweisung nicht weiter, da diese sich stets auf eine andere, wenn auch adäquate Tätigkeit mit vergleichbarer Lebensstellung, geprägt durch Einkommen und soziales Ansehen, bezieht. Und wenn nur die Versetzung in den Ruhestand – und gerade nicht das Außerstandesein zur Ausübung der Tätigkeit – Leistungsvoraussetzung ist, so liegt diese auch bei einer Wiederaufnahme derselben Tätigkeit vor, da der Beamte zumindest ursprünglich einmal in den Ruhestand versetzt wurde und damit die Leistungsvoraussetzungen erfüllt hat.
Wir bevorzugen daher grundsätzlich ein eigenes Prüfungsrecht des Versicherers.
Einige Anbieter haben sehr differenzierte Dienstunfähigkeitsklauseln, die gesonderte Regelungen für unterschiedliche Beamtengruppen enthalten. Hier ist darauf zu achten, dass durch die konkreten Formulierungen auf der einen Seite der Schutz nicht unnötig ausgeweitet wird, auf der anderen Seite aber auch keine Schlechterstellung einzelner Beamtengruppen gegenüber dem „normalen“ BU-Begriff erfolgt (z. B. über befristete Leistungen).
Dieser Besonderheiten im Zusammenhang mit Dienstunfähigkeitsklauseln sollte man sich bei der Formulierung der AVB bewusst sein. Darüber hinaus ist sicherzustellen, dass die Rechnungsgrundlagen auch bei solchen speziellen Klauseln den vollen in den AVB geregelten Leistungsumfang abbilden.
Lebensstellung/Einkommensverlust
Man liest immer noch in manchen Bedingungswerken, dass ein Einkommensverlust1 von maximal 20 % nach höchstrichterlicher Rechtsprechung stets hinzunehmen sei. Diese Formulierung geht auf die Rechtsprechung des BGH zurück. Unserer Ansicht nach lässt sich der Inhalt der Klausel allerdings nicht aus Ausführungen des BGH ableiten.
Der BGH hat in seiner Rechtsprechung grundsätzlich klargestellt, dass wegen der Bandbreite der Berufe und Einkommen eine generelle Quote nicht festlegbar sei, sondern jeweils eine Einzelfallbetrachtung zu erfolgen habe. Selbst wenn eine generelle Quote objektiv zumutbar erscheint, kann sie im konkreten Fall unzumutbar sein.
In einer Entscheidung (08.02.2012, IV ZR 287/10) hat der BGH zwar in seiner Begründung geschrieben, dass eine Einkommenseinbuße von weniger als 20 % bedingungsgemäß hinzunehmen sei, auch bei dieser Entscheidung handelte es sich jedoch um eine Einzelfallentscheidung, mit der der BGH keinen generellen Rahmen abstecken wollte.
Bei der Abwägung der Frage, ob eine „20 %-Klausel“ als wirksam anzusehen ist, dürfte insbesondere dem Aspekt der Transparenz eine große Bedeutung zukommen. Kann der Kunde den Inhalt und die Tragweite der Klausel hinreichend erfassen? Könnte er eventuell durch die Klausel von der Stellung eines Leistungsantrags abgehalten werden, wenn er bei sich eine Einkommenseinbuße von weniger als 20 % feststellt? Sollten Zweifel an der Wirksamkeit bestehen, ist aus unserer Sicht auf jeden Fall der Verzicht auf die entsprechende Klausel ratsam.
Ein weiterer NetLetter zu anderen Aspekten der BU-AVB befindet sich in Planung. Dieser wird voraussichtlich als Teil 2 in Ausgabe 4/2018 erscheinen.
Endnote
- Zur Ermittlung des Einkommens in der Berufsunfähigkeitsversicherung, siehe Gen Re Viewpoint 2017, Nr. 10. Haben Sie Interesse an diesem Beitrag? Dann wenden Sie sich bitte an die Verfasser dieses NetLetter-Beitrages Amelie Bohl oder Andrea Giese.