Die Spargelzeit in Deutschland ist schon länger vorbei. Daher geht die 27-jährige L. zurzeit wieder 20 Stunden pro Woche ihrer Tätigkeit als Vertriebsangestellte in einer Versicherungsagentur nach. Während der Spargelzeit hatte sie nach der Arbeit in der Agentur jeden Tag noch einige Stunden auf einem Spargelhof bei der Ernte geholfen und war im Verkauf tätig. Außerdem arbeitet sie täglich zwei Stunden im Bereich Kurzzeitvermietung und Verpachtung von zehn Ferienwohnungen.
Ein Phänomen, das es in den USA schon lange gibt, ist inzwischen auch in Deutschland auf dem Vormarsch: Immer mehr Menschen gehen nicht nur einer, sondern mehreren beruflichen Beschäftigungen nach.
Zahl der Mehrfachbeschäftigten steigt
Die Zeiten liegen noch gar nicht so lange zurück, dass Arbeitnehmer es als Auszeichnung empfanden, ihr ganzes Leben nur für einen einzigen Arbeitgeber tätig gewesen zu sein. Hier ist mittlerweile allerdings ein Wandel zu beobachten. Nach dem Inkrafttreten von Änderungen der Sozialversicherungs- und Einkommensteuerpflicht geringfügiger Beschäftigungen zum 01.04.2003 im Rahmen der Hartz-II-Reform1 ist die Zahl der Mehrfachbeschäftigten stetig gestiegen. Laut Beschäftigungsstatistik der Bundesagentur für Arbeit waren am 30. Juni 2017 insgesamt 3,3 Millionen Menschen mehrfachbeschäftigt.2 Damit hat sich ihre Anzahl seit 2003 mehr als verdoppelt (siehe Abbildung 1).
Mehrfachbeschäftigte sind Personen, die zeitgleich in mehr als einem Beschäftigungsverhältnis stehen. Dabei ist jede Kombination aus sozialversicherungspflichtiger, geringfügig bezahlter und kurzfristiger Tätigkeit möglich, beispielsweise die sozialversicherungspflichtige Tätigkeit in der Versicherungsagentur und die Saisonarbeit auf dem Spargelhof. Die Branchen, in denen die zusätzlichen Tätigkeiten ausgeübt werden, sind häufig die gleichen wie die des Hauptberufes: Einzelhandel, Gastgewerbe, andere Dienstleistungen sowie das Gesundheits- und Sozialwesen.
Am häufigsten wird eine sozialversicherungspflichtige Teilzeitbeschäftigung mit einem Minijob als Nebenjob kombiniert.3 Die Dauer, der zeitliche Umfang und das erzielte Entgelt der einzelnen Beschäftigungsverhältnisse spielen dabei keine Rolle.
Vielfältige Gründe
Die Gründe für die Aufnahme mehrerer Beschäftigungen sind so vielfältig wie die Kombinationsmöglichkeiten. Grob können wir sie aber in zwei Kategorien einteilen: Auf der einen Seite zwingen arbeitszeitliche bzw. finanzielle Gründe (oftmals pure finanzielle Not) zur Aufnahme weiterer beruflicher Tätigkeiten.4 Auf der anderen Seite gibt es – gerade unter jüngeren Arbeitnehmern – Menschen, die mehreren beruflichen Tätigkeiten nachgehen wollen, um beispielsweise vor der Routine zu fliehen und sich in diversen Jobs entfalten zu können, sogenannte „Slasher“ (eine Bezeichnung, die auf den Schrägstrich auf der englischen Tastatur – den „slash“ – zurückgeht).5
Leistungsprüfung
„Beruf“ bezeichnet nicht zwangsläufig eine einzelne Tätigkeit
- Bei Ausübung mehrerer Haupt- und/oder Nebenberufen bildet die Gesamtheit der Tätigkeiten den Beruf.
- Entsprechende Aufschlüsselung ist bei Leistungsanträgen gefordert.
Welche Auswirkungen haben Mehrfachbeschäftigungen auf die Risiko- und die Leistungsprüfung? Eine Frage, die man angesichts des mittlerweile schnellen Wandels in der Berufswelt nicht außer Acht lassen sollte.
Unter Beruf im Sinne der Berufsunfähigkeitsversicherung verstehen wir im Allgemeinen jede auf Erwerb gerichtete Tätigkeit, die auf eine gewisse Dauer angelegt ist und zur Schaffung bzw. Aufrechterhaltung der Lebensgrundlage beiträgt.6 Hierunter fallen auch Tätigkeiten mit geringerem Umfang, d. h. Teilzeittätigkeiten, auch wenn sie nur hin und wieder ausgeübt werden.
Mit dem Begriff „Beruf“ ist nicht zwangsläufig nur eine einzelne Tätigkeit gemeint. Übt die zu versichernde Person mehrere Haupt- und/oder Nebentätigkeiten aus, bildet die Gesamtheit der Tätigkeiten den Beruf.7
Stellt die versicherte Person nun einen Leistungsantrag, muss sie – denn das gilt als Anknüpfungspunkt für die Bemessung des Berufsunfähigkeitsgrades – ihre zuletzt ausgeübte berufliche Tätigkeit darlegen, und zwar so, wie sie in gesunden Tagen ausgestaltet war.8 Übt sie mehrere berufliche Tätigkeiten aus, muss sie dementsprechend die kompletten Tätigkeiten in allen Bereichen aufschlüsseln.9
Im Beispielsfall würden also sowohl die Tätigkeit der L. als Angestellte in der Versicherungsagentur als auch ggf. die Aushilfstätigkeit auf dem Spargelhof und die mit der Vermietung der Ferienwohnungen verbundenen Tätigkeiten in gesunden Tagen zugrunde gelegt, sodass sie alle diese Tätigkeiten umfassend darlegen müsste.
Für die Leistungsprüfung bedeutet das, dass eine sehr sorgfältige Klärung des zugrunde liegenden außermedizinischen Sachverhaltes vorgenommen werden sollte.
Risikoprüfung
Wie sieht die Bewertung von Mehrfachbeschäftigungen in der Risikoprüfung aus? Spielt die Anzahl der Berufe dort überhaupt eine Rolle?
Derzeit wird die zu versichernde Person in der Regel im Antrag nur nach ihrem „Beruf“ gefragt. Ob mehrere Tätigkeiten ausgeübt werden, wie viele und welche das sind, wird im Detail nicht erfragt. Die tägliche Praxis zeigt, dass in nahezu keinem Antrag auf Abschluss der Versicherung auf diese Frage unaufgefordert mehrere berufliche Tätigkeiten angegeben werden.
Im Hinblick auf eine ggf. später durchzuführende Leistungsprüfung ist dies auch nicht von Belang, da dort – wie ausgeführt – nicht der im Antrag angegebene Beruf, sondern alle zuletzt in gesunden Tagen ausgeübten Tätigkeiten berücksichtigt werden.
Der Beruf der zu versichernden Person spielt aber bei Vertragsschluss schon deshalb eine wesentliche Rolle, weil zur Entscheidung des Versicherers, den Versicherungsschutz zu bestimmten Konditionen zu übernehmen, auch die Berufsgruppeneinstufung gehört. Diese dient dem Versicherer zur Bewertung des objektiven Risikos für den Eintritt des Versicherungsfalles.
Solange weiterhin nur nach „dem Beruf“ gefragt wird, dürfte es so bleiben, dass die Mehrzahl der zu versichernden Personen nur einen Beruf, den aus ihrer Sicht „Hauptberuf“ angeben, auch wenn sie mehreren Tätigkeiten nachgehen.
Würde man die Antragsfragen in der Form modifizieren, dass die zu versichernde Person im Antrag nach allen bei Antragstellung ausgeübten Berufen gefragt wird, könnte die Risikobewertung insbesondere dann zu ganz anderen Ergebnissen führen, wenn die genannten Berufe jeweils in unterschiedliche Berufsgruppen fallen. Im Fall der L. würde das beispielsweise bedeuten, dass allein die Angabe der kaufmännischen Tätigkeit als Versicherungskauffrau zu einer günstigen Berufsgruppe führen würde. Würde sie dagegen die mit körperlichen Belastungen verbundene Tätigkeit im Spargelanbau angeben, ergäbe sich eine schlechtere Berufsgruppe. Und wenn sie beide Tätigkeiten angeben würde?
Die Risikoprüfer werden sich in solchen Fällen mit der Frage beschäftigen, wie eine sachgerechte Einstufung des Risikos unter Berücksichtigung der genannten Berufe aussehen kann.
Es wäre also zu überlegen, die Antragsfragen in Bezug auf mögliche Mehrfachbeschäftigung zu erweitern, denn wenn im Wandel der Berufswelt immer mehr Menschen mehreren beruflichen Tätigkeiten nachgehen, würden diese Informationen helfen, das objektive Risiko für den Eintritt eines Versicherungsfalles sachgerecht und richtig einzuschätzen.