Der weiche Versicherungsbetrug
Lügen und Mogeln, um einen Vorteil zu erlangen, ist ebenso eine menschliche Eigenschaft wie seine Mitmenschen zu unterstützen und ihnen zu helfen, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Beides schlummert in uns – Egoismus und Altruismus.
In der Beziehung zwischen Versicherungsunternehmen und Versicherten dagegen ist altruistischem Verhalten sehr selten, wohingegen Mogeln oder Betrug weitaus verbreiteter sind.
Spätestens seit Dan Arielys Buch „The (Honest) Truth About Dishonesty“ (2012) wissen wir, dass Lügen und Mogeln in den allermeisten Fällen nicht einer besonderen kriminellen Veranlagung bedarf und nicht nach dem Kosten-Nutzen-Prinzip des Simple Model of Rational Crime (SMORC) eingesetzt wird.
Vielmehr, so Ariely, mogeln wir bei passenden Gelegenheiten stets nur ein wenig, verschaffen uns dann nur einen kleinen Vorteil. Was hält uns aber davon ab, den ganzen Rahmen des Möglichen auszuschöpfen und – wenn wir schon mogeln – alles mitzunehmen, was wir kriegen können?
Ariely schließt aus seinen Experimenten, die er mit über 30.000 Personen gemacht hat, dass wir nur so viel betrügen, wie unser Selbstbild als „ehrlicher Mensch“ es zulässt. Dieses Selbstbild darf durch den begangenen Betrug keinen Schaden nehmen.
„… most people cheat up to the level that allows them to retain a self-image as reasonably honest individuals.“
Die Forschungsergebnisse der Verhaltensökonomie und der Neurowissenschaften haben in den letzten Jahren deutlich gemacht, dass der wirtschaftlich handelnde Mensch sich nicht vornehmlich rational, dem Kosten-Nutzen-Prinzip folgend, in seiner Entscheidungsfindung verhält. Viele Heuristiken und kognitive Verzerrungen lassen uns unbewusst Entscheidungen fällen, die dem Verhalten des idealen „Homo oeconomicus“ widersprechen. Für den interessierten Leser sei hier auf die gut lesbaren Bücher von Daniel Kahneman und Amos Tversky oder dem bereits zitieren Dan Ariely hingewiesen, die eindrucksvoll die „Irrationalitäten“ unserer Handlungen experimentell belegt haben.
Die Entscheidung, bei einem geringwertigen, nicht versicherten Schaden eine Versicherung zu betrügen ist sicherlich nicht unbewusst. Aber diese Entscheidung kann auch nicht nach dem Kosten-Nutzen-Prinzip erklärt werden, wenn man sich das Risiko vor Augen führt, das mit einem Betrug einhergeht, wie z. B. Strafe oder soziale Ächtung. Was treibt den ehrlichen Versicherten zum Versicherungsbetrug? Und was erleichtert ihm sein unmoralisches Verhalten?
Den kleinen Versicherungsbetrug, der etwas mehr einbringt als uns der Schadensfall genommen hat oder uns den Schaden ersetzt, wenn wir den wirklichen Verlauf des Schadensereignisses etwas anders darstellen, können wir vor uns selbst sehr gut rechtfertigen. Unser Selbstbild als „ehrlicher Mensch“ wird dadurch nur wenig gestört.
Welche geringsummigen Versicherungsbetrüge sind die häufigsten? Wie rechtfertigt der Betrüger sein Handeln? Und vor allem: Was kann die Versicherungsbranche tun, um solche Betrugsversuche einzudämmen?
Umdefinieren und Übertreiben
Die spektakulären Versicherungsbetrüge, in denen sich Menschen für tot erklären lassen, damit Angehörige die Lebensversicherungsleistung erhalten oder in denen sich Versicherte von „Freunden“ mit dem Auto überfahren lassen, um von ihrer Unfallversicherung eine Zahlung zu bekommen, bilden in der Gesamtmenge der Schäden die Ausnahme. Das „Vortäuschen“ eines Schadens, der nicht existiert, und das absichtliche „Herbeiführen“ eines Schadens lassen auf eine erhöhte kriminelle Energie des Versicherten schließen. Auf diese Fälle konzentrieren sich zumeist die Strategien der Betrugsabwehr von Versicherungsunternehmen.
In diesem Artikel wollen wir uns aber der großen Masse der kleinen Versicherungsfälle widmen, in denen es durch einen Unglücksfall zu einem Schaden gekommen ist. Bei diesen Fällen überschreiten die Versicherungssummen selten die Marke von 1.000,- €, zumeist bewegen sie sich zwischen 100,- und 500,- €.
Die deutschen Wirtschaftsforscher Vanessa Köneke, Horst Müller-Peters und Detlef Fetchenhauer haben sehr anschaulich in einer großangelegten Publikation den Versuch unternommen, dem Massenphänomen „Versicherungsbetrug“ näherzukommen. Dafür haben sie hunderte von Studien und Umfragen ausgewertet und Recherchen bei Konzernen betrieben.
Die häufigste Betrugsform ist demnach das „Umdefinieren“. Dabei ist dem Versicherten durch ein unglückliches Ereignis ein Schaden entstanden, der allerdings nicht von den Versicherungsbedingungen gedeckt ist. Um nun doch noch die Versicherungssumme zu erhalten, wird der Ereignishergang verändert, sodass er unter den Versicherungsschutz fällt. Aus dem Vergessen oder Liegenlassen eines Fotoapparats auf einer Parkbank wird so ein Diebstahl, oder geht im Haushalt etwas zu Bruch, wird die Haftpflichtversicherung eines Freundes herangezogen. Beim Umdefinieren geht es also um den Ersatz eines objektiven, aber eben nicht versicherten Schadens.
Aber warum gehen Menschen das Risiko ein, in solchen Fällen, die für sie zwar ärgerlich aber nicht bedrohlich sind, eines Betrugs überführt und bestraft zu werden? Die Prospect Theory von Kahneman und Tversky weist auf die Verlustaversion hin, wonach Menschen Verluste als intensiver wahrnehmen als Gewinne in der gleichen Höhe. Das erklärt, warum Menschen bei drohenden Verlusten bereit sind, höhere Risiken einzugehen.
Der so zustande gekommene Betrug wird dann zur Rechtfertigung argumentativ „zurechtgebogen“. Zu den typischen Rechtfertigungsstrategien gleich mehr.
Als zweithäufigste Betrugsform machen die Forscher das „Übertreiben“ aus, bei dem der materielle Schaden aus einem unglücklichen Ereignis größer dargestellt wird als er objektiv ist. Hauptgrund für diese Betrugsform scheint zu sein, dass der Versicherte die „subjektiven Zusatzkosten“ ebenfalls ersetzt haben möchte. Dazu zählen z. B. der zeitliche oder monetäre Aufwand bei der Schadensregulierung oder immaterielle Schäden wie psychische Belastungen oder Schäden an Gegenständen mit hohem persönlichem Wert. Auch vertraglich vereinbarte Selbstbehalte können zum „Übertreiben“ führen, indem vom Versicherten die Höhe des Selbstbehalts auf die objektive Schadenshöhe aufgeschlagen wird. Aber auch beim „Übertreiben“ gilt, dass der Versicherte keinen Mehrschaden erfindet, sondern er – aus seiner Perspektive – den subjektiv als tatsächlich wahrgenommenen Schaden ersetzt haben möchte.
Der „ehrliche“ Betrüger
Gehen wir also mit Ariely davon aus, dass wir vor uns selbst als „ehrliche Individuen“ gelten wollen. Fällt es uns dann nicht leichter, morgens ohne allzu schlechtes Gewissen in den Spiegel zu schauen, wenn wir unsere Mogelei, unser Fehlverhalten, in irgendeiner Weise rechtfertigen können?
Köneke et al. beschreiben acht Rechtfertigungsstrategien, die es dem „Ehrlichen“ erleichtern, einen Betrug zu begehen. Die Kenntnis dieser Rechtfertigungsmechanismen kann hilfreich für Versicherungsunternehmen sein, neue oder zu verbessernde Betrugsvermeidungsstrategien zu entwickeln.
Rechtfertigungen für unmoralisches Verhalten
Ohne die statistischen Auswertungen im Einzelnen darstellen zu wollen, soll hier ein kurzer Überblick über die Rechtfertigungen gegeben werden, die es den Versicherten erleichtern einen Betrug durch „Umdefinieren“ oder „Übertreiben“ zu begehen.
Verneinung des Schadens
Der durch den Betrug entstandene Schaden für den Versicherer ist für den Versicherten nicht sichtbar. Es genügt dabei die Wahrnehmung des Versicherten, denn aus seiner Sicht hat die geringe Betrugssumme keine Auswirkungen auf ihn oder jemand anderen. Das Versicherungsunternehmen wird mehr als Prämieneinnehmer denn als Leistungsausschütter gesehen, sodass der Betrug ein Unternehmen trifft, das anscheinend Geld im Überfluss hat.
Verneinung des Opfers
Wenn es keinen Schaden gibt, kann es im engeren Sinn auch kein Opfer geben. Und selbst in den Fällen, in denen dem Versicherten der entstandene Schaden bewusst ist, rechtfertigt er sich damit, dass kein Opfer vorhanden sei. Das anonyme und vermeintlich finanzstarke Versicherungsunternehmen ist für die Opferrolle nicht geeignet.
Verdammen des Opfers
Das Image der Versicherungsbranche im Allgemeinen – und mancher Versicherungsunternehmen im Besonderen – wird von vielen Versicherten als eher schlecht beschrieben. So wird als Rechtfertigung im Stil des psychologischen Konzepts „Blaming the Victim“ das Unternehmen selbst als „betrügerisch“ deklariert. So hat das Versicherungsunternehmen aus Sicht des Versicherten sich den Betrug selbst zuzuschreiben. Auch schlechter Kundenservice oder wenig hervorgehobene Ausschlussklauseln in den Verträgen werden hier als Gründe angegeben, die den Betrug als weniger schlimm erscheinen lassen.
Vergleich mit schwerwiegenderen Taten
Ist den Versicherten bewusst, dass es einen Schaden und ein Opfer gegeben hat, so kann die Rechtfertigung darin bestehen, auf Taten mit höherem Schaden hinzuweisen und den selbst betrügerisch herbeigeführten Schaden derart herunterzuspielen, dass er relativ schaden- und opferlos erscheint. Hier hilft dem „ehrlichen Betrüger“ der Hinweis auf die professionellen Versicherungsbetrüger zur Rechtfertigung des geringen Schadens, der beim „Umdefinieren“ oder „Übertreiben“ entstanden ist.
Abheben auf höhere Motive
Diese Rechtfertigungsargumentation verweist z. B. auf die besondere Bedürftigkeit des Versicherten, der sich durch den Betrug Geld verschaffen will, dass er dringend benötigt. Der Versicherte weiß, dass er Unrecht tut, führt aber höhere Motive an, die die Tat rechtfertigen. Im Stil von Robin Hood, der den Reichen nimmt und den Armen gibt, wird aus Sicht des Betrügers Gerechtigkeit hergestellt.
Die Metapher des Kassenbuchs
Vor allem Gelegenheitstäter, so die Theorie dieser Rechtfertigungsart, führen ein inneres „Moralkonto“, auf dem gute und schlechte Taten „eingezahlt“ werden. Solange die „guten Taten“ überwiegen, fallen „schlechte Taten“, wie ein geringwertiger Versicherungsbetrug, nicht sonderlich ins Gewicht. Ist das Moralkonto auf der guten Seite gut gefüllt und entspricht es als moralisch einwandfreies Verhalten der Natur des Versicherten, ist ein solcher Betrug in der Selbstwahrnehmung verzeihlich.
Rechtfertigung durch Normalität
Zuletzt weisen Köneke et al. auf die weitverbreitete Meinung hin, Versicherungsbetrug sei ein Kavaliersdelikt, denn schließlich „macht das ja jeder“ und „was alle tun, kann nicht so schlimm sein“. Hier wird das eigene Fehlverhalten mit dem vermeintlichen – nicht bewiesenen – Fehlverhalten der anderen Versicherten gerechtfertigt.
Betrugsvermeidung
Köneke et al. systematisieren aber nicht nur die Rechtfertigungen, die dem ansonsten „ehrlichen“ Versicherten den Betrug erleichtern, sie machen auch Vorschläge, wie die Unternehmen dem entgegenwirken können.
Verneinung des Schadens
Mehr Transparenz in der Darstellung von Einnahmen und Ausgaben könnten zu einem realistischeren Bild des Versicherungsunternehmens bei den Versicherten führen. Ist es dem Versicherten erst einmal bewusst, dass auch in Versicherungsunternehmen Kostendruck besteht, in manchen Sparten die Schadenquote bei 90 % und mehr liegt, wird die Rechtfertigung, es sei ja kein Schaden entstanden, entkräftet.
Verneinung des Opfers
Auch diese Rechtfertigung eines Betrugs lässt sich durch Aufklärung der Versicherten eindämmen. Dem Versicherten muss klar sein, dass es sich auch bei privaten Versicherungsunternehmen um Solidargemeinschaften handelt, in der durch steigende Prämien alle Kunden und auch die Mitarbeiter der Versicherer zu Opfern von Versicherungsbetrügen werden. Noch erfolgreicher lässt sich die Rechtfertigung „Verneinung des Opfers“ entkräften, wenn die Opfer personalisiert werden, gleichsam ein Gesicht bekommen und ein nachvollziehbares, individuelles Schicksal haben.
Verdammen des Opfers
Zur Entkräftung dieser Rechtfertigung raten die Wirtschaftsforscher zu einer Imageänderung der Versicherungsbranche als Ganze. Solange der Leumund der Branche eher negativ ist und Vorurteile wie „Versicherer sind doch selbst Betrüger“ bestehen, belastet der Versicherte, der in betrügerischer Absicht handelt, sein Moralkonto nicht zu sehr. Die Forscher schlagen vor, dass Versicherer deutlicher auf Ausschlussklauseln hinweisen und sicherstellen, dass die Kunden die Gründe für die Ablehnung von Zahlungen verstehen. Es gibt erste Studien, die belegen, dass verbesserte Aufklärung der Versicherten das Bild der Branche verbessern kann.
Neben der eingehenden und verständlichen Begründung von Leistungsentscheidungen ist die Ausweitung des Serviceangebots ein zweiter Schritt, der das Versicherungsimage aufwerten kann. Vielen Kunden ist ein guter Service sogar wichtiger als der Preis.
Vergleich mit schwerwiegenderen Taten
Mogeln, Lügen, Umdefinieren, Übertreiben – auch wenn es sich hier objektiv um weniger strafbewährte Delikte handelt, es ist und bleibt ein Betrug. Dem Versicherer bleibt auch entgegen dieser Rechtfertigung nur der Weg, auf den entstehenden Schaden hinzuweisen.
Abheben auf höhere Motive (Gerechtigkeit)
Wird die Entscheidung des Versicherers, nicht oder nicht in vollem Umfang für einen Schaden aufzukommen, vom Versicherten als ungerecht empfunden, besteht eine Diskrepanz zwischen subjektiver Gerechtigkeitssicht beim Versicherten und objektiver Gerechtigkeit des Vertragstextes. Diese beiden Gerechtigkeitswahrnehmungen müssen in Einklang gebracht werden, damit ein Versicherungsbetrug vom Versicherten nicht damit rechtfertigt werden kann, er wolle „nur die Gerechtigkeit wieder herstellen“. Auch dies gelingt nur durch Aufklärung und Erklärung von Sachverhalten, verbunden mit einer freundlichen Ansprache des Kunden, die den Versicherten transparent informiert und ihn ernst nimmt.
Die Metapher des Kassenbuchs
Versicherungsunternehmen haben auf das unbewusst gebildete Moralkonto kaum Einfluss. Hier kann es nur darum gehen, an das Gewissen des Kunden zu appellieren und ihn, wie es Ariely ausdrückt, „bei der Ehre zu packen“.
Rechtfertigung durch Normalität
„Wenn es alle tun, kann es nicht falsch sein“, ist ein Argument dieser Rechtfertigungsstrategie. Auch an dieser Stelle ist Aufklärung wichtig, denn es tun eben nicht alle. Die Mehrheit der Versicherungskunden betrügt nicht. Das ist die Normalität, und der ehrliche Versicherte ist nicht die Ausnahme. Versicherungsunternehmen sollten diese Tatsache stärker betonen und so den Versicherten die Möglichkeit geben, sich der Mehrheit der Ehrlichen anzuschließen.
Fazit
Betrugsprävention kann für die kleinen Betrügereien durch eine intensivere Kundenbetreuung, eine schnellere Schadenaufnahme und transparentere Vertragsgestaltung sowie Aufklärung zur Entkräftung von Betrugsrechtfertigungen gelingen. Wenn der Versicherte sich als Teil der Versichertengemeinschaft versteht und weiß, dass jeder zu Unrecht bezahlte Schaden zulasten der anderen Versicherten geht, fällt es ihm schwerer selbst bei Schadenshöhe oder Ereignisschilderung die Unwahrheit zu sagen. Kontrolle und härtere Strafen führen bei diesen Delikten offenbar zu weniger Erfolg in der Betrugsabwehr, denn sie setzen dann an, wenn der Betrug bereits geschehen ist. Verstärkte Kontrollen führen zudem zu Misstrauen bei den Versicherten und können als Reaktion – im Sinne von Rache – die Kündigung oder auch den Betrug nach sich ziehen.
Dan Ariely kommt nach Auswertung seiner Versuchsreihen zu einem ähnlichen Schluss: Man muss die (nahezu) ehrlichen Menschen bei Ihrer Ehre packen. Wenn der Versicherte vor dem Ausfüllen des Schadensformulars mit seiner Unterschrift bestätigen muss, dass die folgenden Angaben den Tatsachen entsprechen, wird er eher geneigt sein, wahrheitsgetreu zu antworten als wenn er erst nach Beantworten der Fragen zur Unterschrift aufgefordert wird.
Transparenz in den Verträgen, schnelle, personalisierte und freundliche Kundenansprache sowie eine Gestaltung der Kundenbeziehung, die den Versicherten informiert und „bei seiner Ehre packt“, können wichtige Schritte zur Verminderung der Massenphänomene „Umdefinieren“ und „Übertreiben“ als Versicherungsbetrug sein. Auch die Zusammenfassung von Versicherten in „Mikrokollektive“, die dann einen Bonus erhalten, wenn von der gesamten Gruppe über einen definierten Zeitraum keine Schadensmeldungen eingehen, kann die Betrugsmotivation des Einzelnen verringern.