Dieses Frühjahr starb der in den USA geborene Demograf James W. Vaupel. Die Gerontologie mag nicht die Disziplin sein, die besonders viele Berühmtheiten hervorbringt, doch ist Professor Vaupel allseits bekannt.
Bei der Lebenserwartung geht es um Durchschnittswerte, aber Professor Vaupel war kein Durchschnittsmensch. Tatsächlich durchlief er eine spektakuläre, interdisziplinäre Karriere, in der er sich insbesondere mit Frailty-Modellen und der Heterogenität der Langlebigkeit beschäftigte.1 James W. Vaupel, der als charismatischer Dozent galt,2 lehrte zunächst Public Policy an der Duke University und war dann für kurze Zeit Berater der US‑Umweltschutzbehörde EPA. 1996 zählte er zu den Gründungsdirektoren des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung.
Zu seinen jüngsten Arbeiten zählt die systematische Zusammenstellung von internationalen Daten zu Supercentenarians und Semi-Supercentenarians (also Menschen, die mindestens 105 Jahre alt geworden sind) in der Internationalen Datenbank zur Langlebigkeit3, mit der anhand von Validierungsprozessen eine Datengrundlage für die Schätzung von Mortalitätsverläufen in den höchsten Altersstufen geschaffen wurde. Durch Projekte wie MaxNetAging setzte sich Professor Vaupel dafür ein, demografisches Wissen als Open Source verfügbar zu machen. Er wurde in die US‑amerikanische National Academy of Sciences aufgenommen und war Fellow der American Academy of Sciences sowie Mitglied der deutschen Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina.
Er blieb als Forscher aktiv und betreute als Mentor andere Forscher, bis er nach kurzer Krankheit im Alter von 76,9 Jahren plötzlich verstarb. Obwohl er ein relativ zurückgezogenes Leben führte, wurde aufgrund seiner herausragenden beruflichen Leistungen eine Gedenkseite eingerichtet, auf der Freunde und Weggefährten ihre Wertschätzung zum Ausdruck bringen konnten.4 Sie sprechen dort von Professor Vaupels Großzügigkeit, seiner strahlenden Persönlichkeit und seinem Humor – Lachen, so heißt es, ist die beste Medizin (und ein Prädiktor für Langlebigkeit: Wir geben einem ausgeprägten Sinn für Humor +3,14159 auf unseren Langlebigkeitstafeln, soweit wir das in der Risikoprüfung berücksichtigen können).5
Bekanntlich liegt die Lebenserwartung amerikanischer Männer bei rund 77 Jahren. In Dänemark (wo Professor Vaupel lange Zeit gelebt hat und von der Königin für seine Forschungsleistungen an der Süddänischen Universität zum Ritter geschlagen wurde) fällt sie mit 80 Jahren höher aus. Mit 76,9 Jahren blieb James Vaupel also leicht hinter den Erwartungen zurück. Wie konnte das passieren?
Zunächst einmal weiß „jeder“ Aktuar, dass er sich die Periodensterbetafeln ansehen muss, wenn er sich mit der historischen Lebenserwartung befasst. Kombiniert man diese – und hier wird der Beitrag ein wenig nerdig –, können wir seine bevölkerungsspezifische Lebenserwartung etwas genauer einschätzen. Fasst man die Sterbetafeln in einer Generationensterbetafel für im Jahr 1945 geborene amerikanische Männer zusammen, ergibt sich eine Lebenserwartung von bescheideneren 72,0 Jahren.
Das wirft die interessante Frage auf: Welche Tafeln sollten eigentlich herangezogen werden? Dänische, deutsche oder amerikanische? Sind landesspezifische Unterschiede in der Lebenserwartung auf die ethnische Herkunft oder auf die Umwelt zurückzuführen?6
Ihn der Bevölkerung der USA zuzurechnen, erscheint willkürlich bei einem Mann, dessen europäische Wurzeln einige Generationen zurückreichen und der schließlich nach Europa zurückgekehrt ist. Professor Vaupel, der in New York geboren wurde, reiste und wohnte ab den 1990er Jahren in Norddeutschland und „ab und zu“ in Dänemark. Die sorgfältig geführten Geburts- und Sterberegister in Dänemark und anderen skandinavischen Ländern lockten ihn nach Dänemark, wo er sich schließlich im Alter von 68 Jahren mit seiner Frau und seinen beiden Kindern niederließ.7
Für die USA, Dänemark und Deutschland ist die Frage jedoch Haarspalterei, da sich die Sterbetafeln in den relevanten Altersstufen ähneln. Bei einer Kombination aus diesen Wohnsitzen ergibt sich allerdings für diesen Jahrgang eine individuelle Lebenserwartung von 71,9 Jahren.8
Sterbetafeln, die Verbesserungen der Sterblichkeit in den Prognosejahren berücksichtigen, hätten 72,2 Jahre ergeben, was noch deutlich unter den erreichten 76,9 Jahren liegt.
Individuelle Lebensumstände
Die Frage, wie man die individuelle Lebenserwartung beurteilen sollte, mag eher subjektiv sein. Warum ist es ein Schock, dass jemand wie Professor Vaupel keine 80 Jahre alt wird? Die „Gemeinschaft der Demografen blieb fassungslos zurück.“9
Vielleicht liegt es daran, dass die Uhr erst zu „ticken“ beginnt, wenn jemand öffentlich wahrgenommen wird, also internationale Aufmerksamkeit erhält. Bei Professor Vaupel war das spätestens der Fall, als er in den frühen 2000ern mehrere internationale Preise erhielt und unter anderem 2004 als reguläres wissenschaftliches Mitglied in die National Academy of Sciences aufgenommen wurde. Damit wäre seine bedingte prognostizierte Lebenserwartung auf knapp über 82 Jahre gestiegen.
Auch die Genetik ist zu berücksichtigen: Sein Vater und seine Mutter erreichten das hohe Alter von 90 bzw. 96 Jahren; seine Schwester hingegen verstarb mit 64 Jahren an Krebs.10 Tatsächlich hatte Professor Vaupel als Vorreiter in der Erforschung von getrennt voneinander aufwachsenden Zwillingen in skandinavischen Ländern einiges über den Beitrag der Gene zur Langlebigkeit zu sagen. Einer seiner Studien zufolge, in der er dänische Zwillinge untersuchte, hat die Genetik einen Anteil von 25 % an der voraussichtlichen Lebensdauer eines Menschen.11
Professor Vaupel, der unter Aktuaren als Optimist bekannt ist, glaubte daran, dass der Lebenserwartung in der Zukunft keine Grenzen gesetzt sind. In öffentlichen Debatten trat er als gegen die Seneszenz argumentierender Gegenspieler von Professor Jay Olshansky, Professor an der University of Chicago und Mitgründer von Lapetus Solutions Inc., auf, der bekanntlich von einer begrenzten Lebenserwartung ausgeht. Die Wahrheit liegt vermutlich irgendwo dazwischen, wo unzählige Studien und Daten sowohl die Rektangularisierung als auch die Verlängerung der Lebensspanne im höchsten Alter stützen.12
Während COVID‑19 weltweit einen Rückschlag für die Lebenserwartung bedeutete, stützen die jüngsten Entwicklungen wohl die Argumentation Professor Vaupels, denn die Harvard Medical School und viele andere Laboratorien nutzen die mRNA‑Technologie weiter für sicherere Stammzellenforschung an Mäusen.13
Und zufällig soll auch Optimismus per se die Lebenserwartung erhöhen.14,15
Was ist sonst noch zu berücksichtigen, wenn wir Professor Vaupels tatsächliche Lebensdauer mit den üblichen Sterbetafeln in Einklang bringen wollen?
- Sozioökonomischer Vorteil durch einen Doktorgrad der Universität Harvard: +5
- Drei Jobs gleichzeitig ausgeübt, Stressfaktor: ‑1
- Färben die Angewohnheiten des Ehepartners ab? Dänische Frauen sind bekanntlich häufig Raucherinnen: ‑0 (unbewiesen)
- Mortalitätsexperte, vermutlich mit Kenntnissen über lebensverlängerndes Verhalten und einem Bewusstsein für gesunde Lebensgewohnheiten: +5
Selbstverständlich sind solche posthumen Anpassungen lediglich symbolisch und nicht korrekt abgeleitet, aber summa summarum kommen wir nicht auf 76,9 Jahre. Die adjustierte Lebenserwartung hätte vielleicht höher liegen sollen als das Leben, das ihm beschieden war, aber wie wir wissen, ist die Sterblichkeit äußerst volatil und ungerecht.
Aber ganz gleich, was die korrekten posthumen Berechnungen ergeben; der Welt der Langlebigkeitsforschung und Demografie werden die Weisheit und die Stimme von Professor Vaupels fehlen, sein Vermächtnis auf diesem Gebiet aber wird sicherlich (und man möge uns unseren Optimismus verzeihen) mehr als 100 Jahre Bestand haben.16 Deshalb sagen wir: Lang lebe der Optimismus!
Endnoten
- http://www.nasonline.org/member-directory/members/3006987.html
- https://sanford.duke.edu/story/remembering-james-vaupel-one-dukes-first-public-policy-professors/
- https://www.supercentenarians.org/en/
- https://remembering-james-vaupel.org/
- https://www.scientificamerican.com/article/laugh-lots-live-longer/
- https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4029590/
- https://www.sdu.dk/en/forskning/forskningsenheder/samf/cpop/remembering_james_vaupel/obituary_kristensen_holm_jeune
- Abgeleitet aus den Sterbetafeln der Human Mortality Database, https://www.mortality.org/
- https://genus.springeropen.com/articles/10.1186/s41118-022-00163-9
- https://www.wikitree.com/wiki/Vaupel-66 and https://www.demogr.mpg.de/mediacms/1347_main_Trauerrede_Nancy_Vaupel_15112011.pdf
- https://user.demogr.mpg.de/jwv/pdf/Vaupel-HG-97-1996-3.pdf
- https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1047279716300072#fig2
- https://edition.cnn.com/2022/06/02/health/reverse-aging-life-itself-scn-wellness/index.html
- https://www.hsph.harvard.edu/news/press-releases/optimism-longevity-women/
- https://www.brookings.edu/wp-content/uploads/2018/05/working-paper-117_optimism-and-life-expectancy_oconnor_graham.pdf
- IDL, ebenda.
Alle in den Endnoten genannten Quellen wurden zuletzt am 21. Juni 2022 abgerufen.