Die meisten psychischen Störungen verlaufen episodisch. Deshalb ist es für den Antragsteller schwierig, seinen aktuellen Gesundheitszustand objektiv darzustellen und den Risikoprüfer so in die Lage zu versetzen, das Risikoprofil effizient einzuschätzen. Das Gesundheitszeugnis des Hausarztes liefert ebenfalls nur ein lückenhaftes Bild vom Krankheitsverlauf und verweist in erster Linie auf Tiefpunkte. Teilweise sind solche Berichte veraltet, in Eile und ohne Durchführung einer neuropsychologischen Untersuchung aufgesetzt worden, oder sie stellen den Antragsteller in einem vorteilhaften Licht dar. Ein weiteres Problem ist die fehlende Diagnose nach DSM- oder ICD-Standards. Das bedeutet, dass dem Risikoprüfer lediglich eine Auflistung unzusammenhängender Symptome wie z. B. Schlafprobleme, Müdigkeit oder Niedergeschlagenheit vorliegen, die für eine effiziente Risikoprüfung nicht ausreichen.
Psychische Erkrankungen am Arbeitsplatz
Es ist wissenschaftlich belegt, dass Menschen, die angeben, unter seelischen Problemen zu leiden, häufiger Schwierigkeiten haben, zur Arbeit zu gehen (bis zu achtmal häufiger1), und die Wahrscheinlichkeit doppelt so hoch ist, dass sie ihren Beruf schließlich aufgeben werden. Darüber hinaus werden Menschen mit psychischen Störungen oft von ihrem Arbeitgeber diskriminiert, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sie irgendwann kündigen oder nach einer längeren Auszeit aufgrund von psychischen Problemen nicht mehr an den Arbeitsplatz zurückkehren. Arbeit selbst kann eine Ursache für psychische Störungen sein, wie wir von den zahlreichen Fällen wissen, in denen im Zusammenhang mit einer psychischen Erkrankung Stress oder Burn-out genannt werden. Auch wenn Burn-out keine medizinische Diagnose ist, müssen wir bedenken, dass das Arbeitsumfeld einen erheblichen Einfluss auf die Gesundheit und das Wohlergehen eines Menschen haben kann.
Risikoprüfung im Zusammenhang mit psychischen Störungen
Wenn man die am häufigsten diagnostizierten psychischen Erkrankungen betrachtet, haben wir es in der Risikoprüfung derzeit mit drei Risikostufen zu tun: gering, mittelhoch und hoch.
Ein geringes Risiko zeichnet sich durch eine Annahme zu normalen Bedingungen nach einem kurzen Zeitraum (z. B. nach zwei Jahren) aus, da die Statistiken in Bezug auf die Heilung und die berufliche Wiedereingliederung positiv sind. Bei Erkrankungen mit mittlerem Risiko wird dagegen eine höhere Prämie festgelegt, die das erhöhte Risiko der Berufsunfähigkeit in absehbarer Zukunft widerspiegelt. Für Erkrankungen mit hohem Risiko werden schließlich Ausschlussklauseln festgelegt, denn zumeist handelt es sich dabei um Diagnosen, die mit einem sehr hohen Berufsunfähigkeits- und Arbeitslosigkeitsrisiko einhergehen. Selbstverständlich ist das individuelle Risiko in verschiedenen Fällen mit ein und derselben Diagnose unterschiedlich hoch, weshalb dringend angeraten ist, den gesamten Krankheitsverlauf des Antragstellers zu berücksichtigen – und nicht nur die Diagnose. Faktoren wie ein stabiles Arbeitsumfeld, ein Netzwerk aus unterstützenden Sozialkontakten und eine gute Compliance sollten ebenfalls berücksichtigt werden. Negative Faktoren wie Drogenabhängigkeit, ein Hirntrauma sowie mangelhaftes Coping und eine schlechte Compliance sollten eher als ungünstig betrachtet werden. Für eine effiziente Risikoprüfung kommt es deshalb darauf an, in der Antragsphase die richtigen Fragen zu stellen. Stuft man das Risiko eines Antragstellers auf diagnostischer Grundlage ein, stößt man zwangsläufig auf Diagnosen, die in kein festes Schema passen – etwa Depression. Je nach Schwere der Erkrankung und dem klinischen Bild des Antragstellers kann ein und dieselbe Diagnose zu einer vollkommen unterschiedlichen Risikoeinstufung führen.
Was wissen wir über die Chronizität psychischer Erkrankungen?
Auch wenn psychischen Störungen das Stigma anhaftet, ein Leben lang zu dauern, sind die Genesungschancen bei sehr vielen üblichen Erkrankungen tatsächlich sehr gut. Genesung meint, dass die betroffene Person schließlich wieder in der Lage ist, einen Alltag zu führen, zur Arbeit zu gehen, zu lernen und uneingeschränkt am Gesellschaftsleben teilzunehmen.2 Im Folgenden befassen wir uns mit den drei Diagnosen, denen wir in der Risikoprüfung am häufigsten begegnen, und werfen einen Blick auf die Unterschiede in Hinblick auf die Prognose, die Chronizität und das Berufsunfähigkeitsrisiko.
Depression
Tatsächlich stimmt es, dass bei einem Menschen mit Depression die Rückfallwahrscheinlichkeit ein Leben lang anhält (50 % nach der ersten depressiven Episode und bis zu 85 % nach einer zweiten).3 Wir wissen aber auch, dass eine Genesung möglich ist und eine solche Person nicht zwangsläufig berufsunfähig werden muss. Die Rückfallquote korreliert zudem mit verschiedenen anderen Faktoren, wie z. B. der Schwere der Erkrankung, der Compliance sowie der Dauer der ersten Episode. Wer schon in seiner Jugend an depressiven Episoden leidet, hat weniger hohe Genesungschancen als jemand, bei dem die erste depressive Episode im Erwachsenenalter auftritt. Zudem kann es sein, dass die erste Episode keine unbekannten (idiopathischen) Ursachen hat, sondern als Reaktion auf ein konkretes Ereignis auftritt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass eine Person, die seit ihrer Jugend depressiv ist, später definitiv Versicherungsleistungen in Anspruch nehmen wird. Viele Patienten leben ein erfülltes Leben und gehen einer Vollzeitbeschäftigung nach, obwohl sie seit Langem an Depressionen leiden. Zu den Rückfallquoten von Stress- oder Burn-out-Patienten liegen nur sehr wenige Daten vor, da ein Burn-out keine medizinische Diagnose im eigentlichen Sinne ist, sondern ein Symptom, das in eine Depression münden kann, wenn es nicht ernst genommen wird.
Schizophrenie
Eine weitere Diagnose, die in der Risikoprüfung häufig eine Rolle spielt, ist Schizophrenie. Auch wenn Schizophrenie ebenso wie eine Depression episodisch verläuft, tritt sie meistens in chronischer Form auf. In einer aktiven Episode leiden Betroffene an Symptomen wie Halluzinationen und Wahnvorstellungen, kognitiven Verzerrungen, Konzentrationsschwierigkeiten, Alltagsproblemen und Affektverflachung. Bei 70 % aller Patienten führt Schizophrenie zur teilweisen oder vollen Berufsunfähigkeit,4 sodass solche Personen im Underwriting zur hohen Risikogruppe gehören. Da die erste Episode bei zwei Dritteln der Patienten vor dem 30. Lebensjahr auftritt, wird ein Antragsteller dieses Risiko höchstwahrscheinlich anzeigen.
Autismus
Im Gegensatz zu psychischen Störungen wie Depression und Schizophrenie, die erst später im Leben zutage treten, zeigen sich die Symptome von Autismus schon sehr früh im Kindesalter der Betroffenen. Die „Autismus-Spektrum-Störung“ wird sowohl im ICD als auch im DSM als neurologische Entwicklungsstörung aufgeführt. Es lässt sich jedoch argumentieren, dass es sich beim Autismus um keine Erkrankung handelt, sondern dass das Gehirn eines Autisten Reize und Informationen lediglich anders verarbeitet als das Gehirn eines neurotypischen Menschen. Für die Risikoprüfung spielt deshalb das tatsächliche klinische Bild des Antragstellers eine entscheidende Rolle. Autismus ist eine hochgradig heterogene Diagnose: Am einen Ende des Spektrums gibt es Menschen, die ein erfolgreiches, glückliches und erfülltes Leben führen, und am anderen Ende solche, die im Alltag auf Unterstützung angewiesen sind und kognitive Beschränkungen aufweisen. Davon hängt letztlich auch das Berufsunfähigkeitsrisiko ab. Vier von zehn Autisten geben an, noch nie gearbeitet zu haben, während nur 32 % der Autisten in Großbritannien berufstätig sind (Teil- und Vollzeit zusammengenommen).5 Diese niedrigen Zahlen lassen jedoch nicht zwangsläufig auf das tatsächliche Ausmaß der Berufsunfähigkeit in dieser Gruppe schließen. Auch wenn Autisten im Beruf auf mehr Betreuung und Services angewiesen sein mögen als gewöhnliche Beschäftigte, können sie einen Beruf problemlos dauerhaft ausüben, sofern die Bedingungen am Arbeitsplatz ihren besonderen Bedürfnissen entsprechen.
Herausforderung für Risikoprüfung
Wie hoch das Berufsunfähigkeitsrisiko eines Antragstellers mit psychischer Vorerkrankung ist, lässt sich also nicht pauschal beantworten. Die psychische Gesundheit ist ein weites Feld, sodass bei der Risikoprüfung zahlreiche Aspekte berücksichtigt werden müssen. Im Idealfall liegt uns ein ausführliches Gesundheitszeugnis einschließlich einer Diagnose vor, die anhand von anerkannten Kriterien gestellt wurde. Optimal wäre es, auch Faktoren berücksichtigen zu können, die die Risikoeinstufung des Antragstellers zu seinen Gunsten beeinflussen, z. B. sozialer Halt, Erwerbsmuster sowie die Compliance mit medikamentösen und psychologischen Behandlungen. In einer perfekten Welt hätten wir zudem Einblick in ungünstige Faktoren wie Begleiterkrankungen, Alkohol- und Drogenmissbrauch sowie mangelhafte Bewältigungsstrategien. Doch selbst dann ließe sich die Frage, ob ein Antragsteller später einmal Versicherungsleistungen in Anspruch nehmen wird, nicht für alle psychischen Erkrankungen definitiv mit Ja oder Nein beantworten. Wir müssen stets bedenken, dass es im Bereich der psychischen Störungen ein breites Spektrum an Diagnosen gibt, die sich wiederum in unterschiedliche Schweregrade und somit verschiedene Risikostufen einteilen lassen. Manche Antragsteller litten in der Vergangenheit vielleicht an stressbezogenen Symptomen, haben ihr Leben aber inzwischen geändert und Stressfaktoren reduziert, sodass das Berufsunfähigkeitsrisiko bei ihnen nur noch sehr gering ist. Bei anderen Antragstellern wurde in der Vergangenheit vielleicht eine leichte Depression diagnostiziert, doch die letzte Episode liegt bereits Jahre zurück und sie gehen einmal wöchentlich zum Therapiegespräch, was die Rückfallchancen ebenfalls erheblich senkt. Die Risikoprüfung bei psychischen Störungen wird immer ein schwieriges Unterfangen sein und setzt ein fundiertes Verständnis für Psychologie und Psychiatrie voraus. Um diesen komplizierten Vorgang intuitiver zu gestalten, greifen wir auf Daten und Statistiken zu Rückfallquoten, Arbeitsfähigkeits- und Langzeitprognosen zurück. Mit evidenzbasierten Leitlinien hoffen wir, Risikoprüfer dabei zu unterstützen, die dreistufige Risikobewertung anzuwenden, um auf Mutmaßungen und Spekulationen künftig verzichten zu können. Ohne jeden Zweifel können psychische Störungen die Berufsfähigkeit der Betroffenen beeinträchtigen. In welchem Maße dies der Fall ist, lässt sich jedoch nicht allein aufgrund der Diagnose und des entsprechenden ICD-Codes bestimmen.