Nahezu täglich werden wir alle unter den Schlagwörtern „Digitalisierung“ und „Industrie 4.0/Arbeit 4.0 “ informiert, dass sich unsere Arbeits- und Berufswelt verändert und in den nächsten Jahren schneller und grundlegender als vielleicht je zuvor verändern wird.
Schnellere und effizientere Prozesse, eine zunehmende Automatisierung, der Einsatz von künstlicher Intelligenz an der Schnittstelle Maschine/Mensch und neue Ansprüche und Gewohnheiten von Kunden und Mitarbeitern werden nahezu jedes Unternehmen in nahezu jeder Branche umkrempeln, so heißt es.
Wir fragen uns, inwieweit diese Entwicklungen bei der Prüfung von Ansprüchen aus Berufsunfähigkeitsversicherungen zu berücksichtigen sind und ob es jetzt schon sinnvoll ist, sich auf die Arbeits- und Berufswelt von morgen auch bei der Regulierung vorzubereiten.
Dabei soll sich unser Blick heute nicht nach innen und damit auf die Themen richten, wie können sich die Leistungsabteilungen der deutschen Lebensversicherer auf die Digitalisierung und effektivere Prozesssteuerung vorbereiten. Vielmehr wenden wir den Fokus nach außen und fragen, wie hat sich die Arbeits- und Berufswelt in den letzten Jahren in Deutschland bereits verändert, und welche Veränderungen werden in den nächsten Jahren zu erwarten sein, die auch direkte Wirkung auf das Handlungsfeld „Leistungsprüfung“ haben.
Wie wirkt die Digitalisierung auf Berufe und den Arbeitsmarkt?
Zu dieser Fragestellung sind in den letzten Jahren – in Deutschland, aber selbstverständlich auch international – viele Untersuchungen und Prognosen veröffentlicht worden. Fahrt nahm die Diskussion insbesondere durch die 2013 von Carl Benedikt Frey und Michael A. Osborne veröffentlichte Studie „The future of employment: How susceptible are jobs to computerisation?“1 von der University of Oxford auf, in der insgesamt 702 verschiedene Berufsgruppen mit Blick darauf untersucht wurden, was von der dort geleisteten Arbeit durch digitale Technik bereits jetzt oder in absehbarer Zeit ersetzt werden könne.
Die Autoren dieser Studie, die sich mit dem Arbeitsmarkt und der Berufswelt in den USA beschäftigten, kamen zu dem Ergebnis, dass von der Digitalisierung nicht nur Arbeitsplätze in der Produktion, sondern auch viele Berufe in der Dienstleistungsbranche betroffen seien, die in den vergangenen Jahrzehnten noch besonders hohe Arbeitsplatzzuwächse aufgewiesen hätten. Den geringsten Einfluss habe die Digitalisierung in Berufsfeldern, in denen kreative sowie soziale Kompetenzen und Anforderungsprofile nachgefragt seien. Kurz: Es seien gerade jene Berufe besonders von der Digitalisierung betroffen, die von der gesellschaftlichen Mittelschicht ausgeübt werden. Also zum Beispiel Telefonverkäufer, Kreditanalysten, Sachbearbeiter, Immobilienmakler, Computertechniker, Busfahrer, Piloten. Gemeinsam ist den genannten Tätigkeiten eine über 50 %ige Wahrscheinlichkeit, dass Menschen innerhalb von 20 Jahren ganz oder teilweise durch Maschinen ersetzt werden. Deutlich bessere Aussichten haben dagegen Gesundheitsberater, Allgemeinärzte, Psychologen, Zahnärzte, Mathematiker und Floristen: Deren Wahrscheinlichkeit liege unter 5 %. Insgesamt bedroht die Digitalisierung in den USA nach dieser Studie bis 2033 47 % der aktuellen Arbeitsplätze.
Tabelle 1 gibt eine Übersicht über die von Frey/Osborne ermittelten Wahrscheinlichkeiten.2
Was bedeuten die Ergebnisse der Frey/Osborne-Studie für den deutschen Arbeits- und Berufsmarkt? Lassen sie sich übertragen?
Nach einer im April 2015 von ING-DiBa veröffentlichten Studie werde es in Deutschland sogar zu erheblichen Schwierigkeiten durch die Digitalisierung bei 59 % aller Tätigkeiten kommen, weil in Deutschland im Vergleich zu den USA (47 %, s. o.) ein größeres Gewicht auf Berufen in der Industrieproduktion (Hilfsarbeiterkräfte, Anlagen- und Maschinenbediener, Montagetätigkeiten) läge.3 Das heißt konkret: Von den 30,9 Millionen in dieser Studie berücksichtigten sozialversicherungspflichtig oder geringfügig Beschäftigten seien 18,3 Millionen Arbeitsplätze „in ihrer jetzigen Form von der fortschreitenden Technologisierung in Deutschland bedroht“.4
Als ein Grund für diese Entwicklung werden die Fortschritte in der modernen Robotik genannt. Seit Langem schon werden Roboter u. a. als Teil des Montagesystems in der Automobil- und Automobilzulieferwirtschaft eingesetzt. Neu ist die Entwicklung hin zu sog. kollaborativen Robotern. Das sind mit Sensoren ausgestattete Roboter, die auf den Menschen reagieren, also sprichwörtlich Hand in Hand mit ihm arbeiten.5 Da diese Roboter wahrnehmen können, wenn sie dem Menschen zu nahe kommen, und dann stoppen, sind sie nicht mehr in abgesonderte Firmenbereiche ausgelagert, sondern Teil der „normalen“, barrierefreien Arbeitsumgebung.
Der kollaborative Roboter wird viele Produktionsprozesse verändern. Von solchen Entwicklungen können auch diejenigen profitieren, für die der Arbeitsmarkt eine besondere Herausforderung ist, weil sie schwerbehindert sind: Im schwäbischen Sachsenheim ist in diesem Jahr der wohl erste speziell für Schwerbehinderte entwickelte Mensch-Roboter-Arbeitsplatz entstanden. Gefördert wurde das Projekt AQUIAS (Arbeitsqualität durch individuell angepasste Arbeitsteilung zwischen Servicerobotern und schwer-/nichtbehinderten Produktionsmitarbeitern) durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung. In ihm geht es nicht nur um die Teilhabe an Arbeit für eine spezifische Personengruppe, sondern auch um die Unterstützung normal leistungsfähiger Mitarbeiter durch Servicerobotik.6
Dass durch die Digitalisierung ein starker Veränderungsdruck entsteht, hat die oben erörterte Studie von ING-DiBa deutlich gemacht. Etwas relativiert wurde deren Annahmen durch einen Forschungsbericht des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) mit dem Titel: „Übertragung der Studie von Frey/Osborne (2013) auf Deutschland“.7 Dieser im April 2015 für das Bundesministerium für Arbeit und Soziales erstellte Bericht kam zu der Erkenntnis, dass nur 42 % der Beschäftigten in Deutschland in Berufen mit hoher Automatisierungswahrscheinlichkeit arbeiten würden.
Die Autoren dieser Studie stellten fest, dass das Risiko, durch Automatisierung seinen Arbeitsplatz zu verlieren, für gering Qualifizierte und Geringverdiener besonders hoch sei. Hinsichtlich der Qualifikation bedeutet das nach Auffassung der Autoren konkret das Folgende: „Während etwa Beschäftigte mit Elementar- oder Primarbildung in Deutschland eine Automatisierungswahrscheinlichkeit von 80 % aufweisen, liegt der Wert für Beschäftigte mit Promotion bei lediglich 18 %. Die Automatisierungswahrscheinlichkeit (fällt) umso geringer aus, je höher das Bildungsniveau der Beschäftigten ist.“8
Im Detail haben die Berechnungen des ZEW den folgenden Zusammenhang zwischen Automatisierungswahrscheinlichkeit und Bildung ermittelt. Der Vergleich mit den Zahlen aus den USA zeigt, dass die Werte ähnlich, aber nicht identisch sind (s. Abbildung 1).9
Wie ist der Zusammenhang beim Einkommen? „Die Beschäftigten mit den 10 % geringsten Einkommen (< 10 %) stehen in Deutschland (…) einer 61 %igen Automatisierungswahrscheinlichkeit gegenüber. Bei den 10 % Beschäftigten mit den höchsten Einkommen (90 - 100 %) beträgt die Automatisierungswahrscheinlichkeit lediglich 20 %. Die Auswertungen verdeutlichen, dass die Automatisierungswahrscheinlichkeit auch mit dem Einkommensniveau der Beschäftigten sinkt.“10
Im Detail sieht der Zusammenhang zwischen Automatisierungswahrscheinlichkeit und Einkommen nach den Berechnungen des ZEW aus wie in Abbildung 2 dargestellt.11
Interessant ist der Unterschied, der in der Studie zwischen Berufen und Tätigkeiten gemacht wird. Streng genommen seien, so die Autoren der Studie, Tätigkeiten automatisierbar, nicht aber Berufe. Unter Berücksichtigung dieser Unterscheidung seien „in Deutschland nur 12 % der Beschäftigten durch Automatisierung betroffen“.12 Auch plädieren die Autoren für eine „vorsichtige Interpretation“ von Automatisierungswahrscheinlichkeiten: Experten würden häufig die technischen Potenziale überschätzen und gesellschaftliche, rechtliche und ethische Hürden nicht oder nicht in demselben Maße berücksichtigen.
Zu ähnlichen Erkenntnissen wie das ZEW kam 2015 auch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit.13 Etwa 15 % der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland sei bereits im Jahr 2013 einem sehr hohen Substituierbarkeitspotenzial ausgesetzt.
Das bedeutet, dass diese Beschäftigten in Berufszweigen tätig waren, bei denen mehr als 70 % der Tätigkeiten schon heute durch Computer und Automatisation ersetzt werden könnten.
Wie sich das Bundesministerium für Arbeit und Soziales die Zukunft der Arbeitswelt vorstellt, ist in dem zwischenzeitlich viel diskutierten „Weißbuch Arbeiten 4.0 “14 dokumentiert.
Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen
Gleich, wie man die Studien liest und ob man sie in Gänze in ihren Schlussfolgerungen teilt oder – dies kann man mit guten Gründen – daran zweifelt, dass jede nur mögliche Digitalisierung und Automatisierung betriebswirtschaftlich Sinn macht, so ist doch klar, dass sich die Berufs- und Arbeitswelt in den nächsten Jahren entscheidend verändern wird.
Ein Blick auf derzeit gehypte Dienstleistungsangebote zeigt dies eindrücklich:
- Das weltweit größte Taxiunternehmen besitzt keine eigenen Taxis (Uber).
- Der größte Unterkunftsanbieter der Welt besitzt keine eigenen Zimmer (Airbnb).
- Der weltweit größte Filmverleiher besitzt keine Kinos (Netflix).
- Telefongiganten besitzen keine eigene Telekommunikationsinfrastruktur (Skype).
Schon heute verändert der Einsatz von künstlicher Intelligenz unseren Alltag. Als Beispiele seien die Google-Translate-Übersetzungsmaschine und digitale Assistentinnen wie „Siri“, „Cortana“ oder „Alexa“ genannt. Chatbots und interaktive Lautsprecher wie „Echo“ runden das neue Bild, welches durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz gezeichnet wird, bereits heute ab.
Ebenfalls begonnen hat der Einsatz von künstlicher Intelligenz, etwa „Watson“ von IBM, im beruflichen Umfeld. Mit „Watson“ macht auch die Versicherungsbranche (Beispiel Japan) bereits Erfahrungen im Leistungsmanagement von Lebensversicherungen. Auch im Gesundheitswesen und im Kundenservice ist Watson bereits im Einsatz.
Unbestritten ist der bereits erreichte Stand der Digitalisierung in unterschiedlichen Branchen unterschiedlich hoch. Vielleicht überrascht es, dass die gerne als technologischer Vorreiter angesehene Automobilindustrie bei einer Umfrage unter 300 Topmanagern der deutschen Industrie bei der „Einschätzung der eigenen digitalen Reife“ nicht auf dem Spitzenplatz war. Diesen nahm die Chemie ein, gefolgt von der Logistik und der Energietechnik.
Welches Potenzial zur weiteren Digitalisierung haben die genannten Branchen? Bei der Energietechnik sehen die Topmanager ein Digitalisierungspotenzial von 28 %. 18 % beträgt das Digitalisierungspotenzial in der Logistik, Automobilindustrie und im Maschinen und Anlagenbau.
Abbildung 3 zeigt im Detail den Vergleich der Branchen nach aktuellem Stand und Potenzial der Digitalisierung.15
Ein relativ unbestrittener Befund der Diskussion ist zudem, dass die Digitalisierung ganz sicher atypische Beschäftigungsmodelle, also flexible Teilzeitarbeit oder neue Arbeitsformen vermehrt hervorbringen und nutzbar machen wird.
So zum Beispiel:
- Gigwork – ortsgebundene Arbeit, bei der es keine feste Beschäftigung mehr gibt, sondern nur noch Kurzeinsätze (Gigs). Neben der Arbeit nutzt der Auftraggeber auch das Kapital des Auftragnehmers (Autos, Wohnungen). Beispiele: Uber, Airbnb.
- Cloudwork – ortsunabhängige Arbeit, eine Plattform vermittelt einen Freelancer, den sie weltweit sucht, für eine Aufgabe. Vorteile sind niedrige Einstiegsbarrieren und hohe Flexibilität. Beispiele: freelancer.com, upwork.com.
- Crowdwork – ortsunabhängige Arbeit, eine Variante von Cloudwork, bei der die Aufgabe an eine unspezifische Gruppe geht (Kreativwettbewerbe, Microtasking). Beispiele: jovoto.com, clickworker.de.
Dies hat dann ganz sicher auch direkte Auswirkungen auf die Regulierung von Berufsunfähigkeitsschäden.
Auswirkungen auf die Leistungsregulierung „Berufsunfähigkeit“
Die gute Botschaft ist, zunächst einmal bleibt es natürlich bei den vertraglich vereinbarten Bedingungen. Dies bedeutet, dass auch in Zukunft zu prüfen sein wird, ob der Versicherte seinen zuletzt ausgeübten Beruf, so wie er ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ausgestaltet war, infolge Krankheit, Körperverletzung oder mehr als altersentsprechendem Kräfteverfall ganz oder teilweise voraussichtlich auf Dauer nicht mehr ausüben kann. Allerdings wird die Vielfalt beruflicher Tätigkeitsmöglichkeiten und vor allen Dingen auch atypischer vertraglicher Beschäftigungsformen im Vergleich zu heute deutlich zunehmen. Schon jetzt kommt es immer wieder vor, dass Versicherte nicht nur eine Tätigkeit, sondern vielleicht mehrere Tätigkeiten in unterschiedlichem Umfang in „gesunden Tagen“ ausgeübt haben, sodass auch im Rahmen der Leistungsprüfung nicht nur auf eine berufliche Tätigkeit abzustellen ist. Diese Entwicklung dürfte sich in den nächsten Jahren dynamisch fortsetzen.
Für die Regulierung bedeutet dies, dass – vielleicht noch mehr als bereits heute – das Schwergewicht der Leistungsprüfung deutlich auf die Klärung des zugrunde zu legenden außermedizinischen Sachverhalts zu setzen sein wird.
Leistungsfälle aus neuen beruflichen Tätigkeiten werden zu regulieren sein – vielleicht von UX-Designern, Mobile Developern oder von einem 3-D-Artist. Die Regulierung braucht ein hinreichendes Wissen von den Anforderungen, die diese oder andere „digitale“ Tätigkeiten an den Ausübenden stellen. Das schließt beispielsweise ein Wissen über mobiles und vernetztes Arbeiten ebenso ein wie die Kenntnis über Mobile Devices als Arbeitsmittel. In diesem Sinne benötigt die Regulierung eine deutlich erhöhte Digitalkompetenz – und diese am besten branchen- und tätigkeitsbezogen.
Auch werden vermutlich die Aspekte einer kompetenten finanziellen Leistungsprüfung deutlich an Gewicht gewinnen, wenn verschiedene Beschäftigungsverhältnisse in das materiell richtige Verhältnis zueinander zu setzen sind, denn dabei wird es auch darauf ankommen, aus welcher Tätigkeit der Löwenanteil der finanziellen Lebensstellung generiert wird, um insoweit auch die richtigen qualitativen Schwerpunkte in der Bewertung zu erkennen.
Sofern nach und nach mehr und mehr manuelle Tätigkeitsfelder durch den Einsatz von Robotern und Maschinen ersetzt werden können, dürfte es – ähnlich wie in der gesetzlichen Unfallversicherung – zu einem weiteren Rückgang an Berufsunfähigkeitsfällen durch Arbeitsunfälle oder körperlichen Verschleiß im orthopädischen Bereich kommen.
Auf der anderen Seite lässt sich prognostizieren, dass die seit Jahren anwachsende Zahl von Leistungsbegehren wegen psychischer Erkrankungen eher noch weiter steigen als sinken wird. Dann wird im Einzelfall mehr als heute zu klären sein, ob die Berufsunfähigkeit infolge Krankheit, Körperverletzung oder mehr als altersentsprechender Kräfteverfall ausgelöst ist oder ob andere Faktoren – etwa Arbeitsplatzverlust durch Digitalisierung – die Berufsunfähigkeit maßgeblich oder ausschließlich ausgelöst haben.
Fazit
Arbeit 4.0 ist im Begriff, die Berufswelt in einer sehr vielfältigen Weise zu verändern. Wie diese Veränderungsprozesse genau beschaffen sein werden, ist noch nicht absehbar. Es gilt nach wie vor das Diktum: Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen!
Absehbar ist aber: Wer als Leistungsprüfer/in „wach“ und offen bleibt und sich für die Entwicklungen in der Berufswelt interessiert, wird auch zukünftig die nötige fachliche Qualifikation aufweisen, um die Leistungsfälle sachgerecht und objektiv richtig einzuschätzen. Wer die Veränderungen in der Berufswelt wahrnimmt und sich dafür interessiert, wird auch in Zukunft die berechtigten von den unberechtigten Leistungsansprüchen klar und schnell unterscheiden können. Wir werden Sie auf diesem Weg fachlich und mit Weiterbildungsangeboten begleiten.