Es war eine der Szenen dieser Fußball-Europameisterschaft (EM) und ein großer Tabubruch: Cristiano Ronaldo, vielfacher Weltfußballer und in den sozialen Netzwerken gefeierte Kultfigur, sitzt während einer Pressekonferenz an einem Pult, auf dem auch zwei Flaschen eines zuckerhaltigen Softdrinks mit weißer Schrift auf rotem Label stehen. Ronaldo, seinerseits bekannt für seinen durchtrainierten Körper und eine halbgott-ähnliche Fitness, schiebt die Getränke von sich fort, hält eine andere Flasche in die Kameras und kommentiert diese mit nur einem Wort: „Agua“ – Wasser.1
Ob dies auf ein durch die Pandemie gesteigertes Gesundheitsbewusstsein des Fußballers zurückzuführen ist, sei dahingestellt. Die Szene und das öffentliche Echo darauf zeigen jedoch, dass gesunde Ernährung sowie die körperliche, aber auch mentale Fitness längst im Mainstream angekommen sind. Und dass Cristiano Ronaldo sich nicht scheut, ein Fußballturnier dafür zu nutzen, einen gesunden Lebensstil zu propagieren – auch, wenn er dabei Sponsorinnen und Sponsoren verärgert.2
Die Weltgesundheitsorganisation definiert Gesundheit als den „Zustand vollständigen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit oder Gebrechen“.3 Die Gesundheit wirkt sich unmittelbar auf die soziale, ökonomische und persönliche Entwicklung aus und beinhaltet damit neben der Abwesenheit von Krankheit auch eine funktionelle Komponente (Gesundheit für Leistungs- und Arbeitsfähigkeit in körperlicher und sozialer Hinsicht) sowie eine wertende Komponente (Gesundheit als höchstes Gut).4
Dieser Artikel soll die körperlichen, aber auch die geistigen/psychischen Aspekte des Wohlbefindens innerhalb des multidimensionalen Konstrukts „Gesundheit(‑sbewusstsein)“ näher betrachten und die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf ebendiese beleuchten. Insbesondere für Erst- und Rückversicherer dürften die Erkenntnisse und Trends von Mehrwert sein, da sie helfen, die Bedürfnisse und Anforderungen der Versicherten sowie Antragstellerinnen und Antragsteller besser zu verstehen.
Self‑care – das Ich steht im Mittelpunkt
Die Pandemie beherrscht das öffentliche und private Leben seit nunmehr anderthalb Jahren. Wir alle haben über Monate bundesweite Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie – Kontaktbeschränkungen, Maskenpflicht, Lockdowns in unterschiedlichen Härtegraden – erlebt. Natürlich haben diese Maßnahmen und die daraus resultierenden Konsequenzen eine Vielzahl an Änderungen im Alltag mit sich gebracht. Viele waren konfrontiert mit geänderten Anforderungen im Beruf (Homeoffice, Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit), in der Freizeit (Einschränkungen des Soziallebens sowie von Sport- und Freizeitangeboten, Reisestopps, gestrichene Restaurant-/Theater-/Kinobesuche) und im Familienleben (Homeschooling, KiTa‑Schließungen), um nur einige zu nennen. Folgerichtig resultiert daraus ein geänderter Lebensstil, der natürlich auch einen Einfluss auf das Gesundheitsverhalten und damit auf das Gesundheitsbewusstsein hat.
Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PWC hat dazu im März 2021 eine Studie veröffentlicht, in der untersucht wurde, wie sich die Pandemie auf den Lebensstil der Deutschen ausgewirkt hat.5 PWC zufolge wurden in der repräsentativen Online-Befragung im Zeitraum vom 26. Januar bis 3. Februar 2021 1.000 Personen ab 18 Jahren in Deutschland befragt, quotiert auf Alter, Geschlecht und Region. Diese Daten wurden mit den Erkenntnissen einer Vorgängerstudie aus dem Jahr 2019 verglichen. Die Ergebnisse im Zusammenhang mit dem Gesundheitsbewusstsein sind dabei bemerkenswert: Ein positiver Trend kann beispielsweise hinsichtlich einer gesünderen Ernährung beobachtet werden. So gaben 24 % der Befragten an, dass sie aufgrund der Beschränkungen durch COVID‑19 mehr auf ihre Ernährung geachtet hätten (vs. 12 % der Befragten, die angaben, weniger auf ihre Ernährung geachtet zu haben). Ausgewählte Faktoren, die hierbei von Relevanz sein können, sind in Abbildung 1 dargestellt.
In einer durch ein Marktforschungsinstitut durchgeführten Umfrage im Auftrag von GSK Consumer Healthcare wurden 1.000 Deutsche zwischen 16 und 75 Jahren, gewichtet nach Alter, Geschlecht, Region und Beschäftigungsstatus, zu „verschiedenen Aussagen [...] sowie Verhaltensänderungen vor und nach Inkrafttreten der Leitlinien zur Beschränkung sozialer Kontakte“ befragt. Auch dabei traten ähnliche Werte auf:7 So ist aus dem unternehmenseigenen Factsheet zu entnehmen, dass insbesondere bei jungen Menschen zwischen 16 und 24 Jahren ein „Wertewechsel“ in Richtung „Self‑care“ zu beobachten ist. Dies wird unter anderem daraus abgeleitet, dass ein Viertel aller Befragten (27 %) sich „in Zukunft häufiger in Apotheken Ratschläge gegen leichtere Beschwerden holen“ möchten. Zudem würden sich 22 % der Befragten „häufiger [...] über eine gesündere Lebensweise beraten lassen“. Hohe Zustimmungswerte (über 50 %) konnten auch bei der Bestätigung der Aussage beobachtet werden, dass junge Befragte „ihre Gesundheit vor der Corona-Pandemie als Selbstverständlichkeit angesehen […] haben“ und ungefähr zwei Drittel der Befragten bestätigten, dass „sie eher dazu tendieren das Thema in ihre Alltagsentscheidungen einzubeziehen“.
Auch viele Krankenkassen und ‑versicherer bestätigen den Trend zu einem gestiegenen Gesundheitsbewusstsein durch Corona, bezogen auf einzelne Bereiche des täglichen Lebens. Die Gesundheit einer/eines Einzelnen wird durch die Pandemie nun häufiger als ein essenzielles, schützenswertes Gut gesehen und nicht mehr unbedingt als selbstverständlich wahrgenommen.
Aufgrund des demografischen Wandels in Deutschland kann sogar davon ausgegangen werden, dass sich dieser Trend weiter verstärken wird. Die Vulnerabilität der/des Einzelnen aufgrund steigender Lebenserwartung und einem höheren Durchschnittsalter der Bevölkerung wurde uns durch die Auswirkungen der Pandemie spiegelbildlich vorgeführt. Zwar sind vereinzelt Verhaltensänderungen bezogen auf das Gesundheitsverhalten der Gesellschaft absehbar, jedoch muss in diesem Zusammenhang auch die Kehrseite der Auswirkungen der Pandemie beleuchtet werden.
Psychische Gesundheit – ein Grundbaustein des Konstrukts Gesundheit
Aus der zitierten PWC‑Studie können auch entgegengesetzte Trends abgeleitet werden, exemplarisch festzumachen am Beispiel der Ausübung von Sport durch die Befragten. So gaben in der PWC‑Studie 25 % der Personen an, aufgrund der Beschränkungen weniger Sport getrieben zu haben. Nur 17 % der Befragten gaben an, mehr Sport getrieben zu haben. Zwar konnten viele aufgrund der geltenden Einschränkungen nicht ihr gewohntes Sportprogramm durchführen (Stichwort: Teamsport), jedoch könnten auch weitere Faktoren, die einen gesunden Lebensstil erschweren und während der Pandemie gegenüber dem Vorjahr an Relevanz gewonnen haben, ursächlich gewesen sein (siehe Abbildung 2).8
Die in der Abbildung aufgezeigten Faktoren entstammen zwar nur einer einzelnen Befragung, die Erkenntnisse sind jedoch größtenteils im Einklang mit dem wissenschaftlichen Konsens, bezogen auf die gebündelte psychische Gesundheit von großen Teilen der Weltbevölkerung während der COVID‑19-Pandemie. Laut Frau Prof. Dr. med. Marcella Rietschel, wissenschaftliche Direktorin der Abteilung Genetische Epidemiologie in der Psychiatrie des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim, sind die pandemiebedingten psychischen Belastungen häufig insbesondere auf eingeschränkte soziale Interaktionen der Menschen, die Spannungen innerhalb von Familien, die zusammen auf engstem Raum interagieren, und die Angst vor Krankheiten zurückzuführen.10 Aus weiteren internationalen wissenschaftlichen Studien kann zudem geschlossen werden, dass vor allem junge Menschen während der Pandemie anfälliger für psychische Belastungen sind als Ältere, was auf ein stärkeres Bedürfnis nach sozialen Interaktionen, Reisen und Freizeitaktivitäten zurückgeführt werden kann. So wiegt der Verlust oder die Einschränkung dieser Aktivitäten bei Jüngeren schwerer als bei Älteren.11 Des Weiteren weisen Studien darauf hin, dass aufgrund der Pandemie eher junge Frauen, stärker von psychischen Problemen betroffen sind (bzw. häufiger fachliche Hilfe in Anspruch nehmen) als junge Männer; auch Personen mit einer diagnostizierten psychischen Erkrankung sowie jene mit kleinen Kindern sind einem besonderen Risiko für (weitere) Probleme mit der mentalen Gesundheit ausgesetzt.12 Eine Verfestigung von existierenden Ungleichheitsstrukturen aufgrund der Pandemie, inklusive der daraus resultierenden höheren Belastung für Frauen, sind in diesem Kontext dringend erwähnenswert.13
Als Randnotiz möchte ich als Vater von zwei Kindern unter drei Jahren aus eigener Erfahrung bestätigen, dass auch die Aufhebung von einzelnen Maßnahmen in Deutschland, verkündet durch die entsprechenden Bildungsministerien, mit erheblichem psychischem Stress und der Angst vor dem Unbekannten einhergehen kann. Beispielsweise ist die Verkündung, dass es in diesem Herbst und Winter keine Schul- und Kitaschließungen geben wird, zunächst eine positive Nachricht für viele „erschöpfte Eltern“. Jedoch „muss [man] aber keine Virologin sein, um zu ahnen, dass der Winter für viele [...] nicht ganz so normal werden wird“, wenn die Inzidenzen bei den ungeimpften Kindern weiter ansteigen.14
Führende US‑Wissenschaftlerinnen und ‑Wissenschaftler haben zudem in einer im April 2021 erschienenen Publikation eine Handlungsaufforderung verfasst, welche besagt, dass die klinische Psychologie eine führende Rolle bei der nationalen Antwort auf die sekundäre Corona-Krise (Krise der psychischen Gesundheit) übernehmen solle, da COVID‑19 mit erheblichen sozialen, wirtschaftlichen und medizinischen Herausforderungen für jede Altersstufe einhergeht.15
Dennoch wäre es zu einfach, aufgrund der Vielzahl der einzelnen zu dieser Thematik erschienenen Publikationen eine pauschalisierende Aussage zu treffen, beispielsweise, dass die Pandemie zu einer weltweiten Krise der psychischen Gesundheit geführt hat bzw. führen wird. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Frau Prof. Dr. Lara Aknin, Chair der Mental Health and Wellbeing Task Force für eine der weltweit renommiertesten medizinischen Fachzeitschriften, The Lancet, haben über 1.000 Fachpublikationen aus nahezu 100 Ländern analysiert. Sie sind zu dem Schluss gekommen, dass zwar zu Beginn der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 Angst- und Depressionszustände sowie allgemeiner psychischer Stress dramatisch zugenommen haben, diese jedoch ebenso schnell (Sommer 2020) ein nahezu vorpandemisches Level erreicht haben.16 Zudem wurden von den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Daten aus dem World Poll des Meinungsforschungsinstituts Gallup Organization (Umfrageergebnisse aus 160 Ländern) hinsichtlich der Bewertung des Lebens der teilnehmenden Menschen ausgewertet.17 Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden gebeten, ihre Zufriedenheit auf einer Zehn-Punkte-Skala zu bewerten, wobei zehn das bestmögliche Leben und null das schlechteste ist. Im Jahr 2020 bewerteten die Befragten ihr Leben im Durchschnitt mit 5,75, was dem Mittel der vergangenen Jahre entspricht.18
Aknin und ihre Kolleginnen und Kollegen äußerten sich in The Atlantic überrascht, wie gut viele Menschen die psychologischen Herausforderungen der Pandemie überstanden haben. Sie schlussfolgerten, dass viele Menschen widerstandsfähiger seien, als sie selbst glaubten. So begründen sie dies damit, dass ein sogenanntes psychologisches Immunsystem vorhanden ist, welche es ermöglicht, selbst aus der schlimmsten Situation das Beste zu machen.19 Traumata und Kummer wurden in vielen Fällen schneller verarbeitet als angenommen. Neue Wege der sozialen Interaktion wurden aus Notlagen geschaffen (u. a. virtuelle Weintastings und digitale Familientreffen als kreative Folgen der Isolation), sodass die zunächst angenommenen Folgen für die psychische Gesundheit vielfach abgefedert werden konnten. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler betonten jedoch, dass natürlich nicht vergessen werden dürfe, dass insbesondere Angehörige von Erkrankten und Verstorbenen unter größtmöglichen psychischen Belastungen gelitten haben und weiterhin leiden und viele Menschen finanziellen Belastungen hinnehmen mussten.
Gesundheit – mehr als nur Bewusstsein
Nun ist es ein komplexes und vielschichtiges Unterfangen, einen kausalen Zusammenhang zwischen einem gesteigerten Gesundheitsbewusstsein und Gesundheitsverhalten durch die Pandemie auf der einen Seite und der tatsächlichen Auswirkungen der Pandemie auf die (psychische) Gesundheit auf der anderen Seite herzustellen. Natürlich können oftmals eigenverantwortliches Handeln und „Self‑care“ präventiv wirken und ein gesteigertes Gesundheitsbewusstsein vor psychischen Erkrankungen sowie Stress schützen. Cristiano Ronaldos Aufforderung, beim nächsten Meeting zur Wasserflasche statt zum Softdrink zu greifen, kann natürlich ebenfalls Folge geleistet werden. Jedoch muss hier auch festgestellt werden, dass sich durch die Pandemie Szenarien ergeben (haben), die eben auch durch die bestmögliche Prävention und ein enormes Gesundheitsbewusstsein nicht kontrolliert und beeinflusst werden können. Das psychologische Immunsystem konnte vielfach zwar dazu beitragen, das Leid vieler Betroffenen abzufedern, jedoch ersetzt es nicht gesellschaftliche Bemühungen sowie Unterstützung von Staat und Unternehmen, die Gesundheit eines jeden Individuums zu schützen und somit den „Zustand vollständigen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit oder Gebrechen“20 (WHO) zu erlangen. Wir sollten dies verinnerlichen und in unser tägliches Handeln einbinden – und danach streben, gemeinsam und als intakte Gesellschaft die Herausforderungen dieser Pandemie anzugehen. Die einzelnen Akteurinnen und Akteure innerhalb der Versicherungsbranche haben die Möglichkeit, aus der Pandemie zu lernen und sollten in diesen turbulenten Zeiten den Versicherten als echte/wahre Partnerinnen und Partner mit voller Kraft und Überzeugung zur Seite stehen.