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Ausgabe von November 2023
Deutschland – Bundesregierung beschließt das neue Leitentscheidungsverfahren am BGH
Am 16. August 2023 hat die Bundesregierung dem Regierungsentwurf des BMJ zum sog. Leitentscheidungsverfahren (vgl. bereits PHi 2023, 117) zugestimmt. Mit diesem sollen in Massenverfahren grundsätzliche und auf viele Fälle übertragbare Fragen schneller höchstrichterlich entschieden werden können und die Verfahren vor den Instanzgerichten effizienter bearbeitet werden.
So werden bei Massenschadensereignissen (bspw. im Falle unzulässiger Kontogebühren oder „Diesel-Fällen“) gewöhnlich viele Einzelklagen vor den Zivilgerichten erhoben, bei denen sich oft jeweils die gleichen entscheidungserheblichen Rechtsfragen stellen. Eine Vielzahl davon läuft schließlich auch bis zur letzten Instanz durch.
Um dies einzudämmen und nur noch einzelne Fälle in den weiteren Instanzen entscheiden zu müssen, kann der BGH deshalb künftig eines der gleichgelagerten Verfahren, in dem Revision eingelegt wird – möglichst eines mit einem breitem Spektrum an offenen und für die Konstellation typischen Rechtsfragen – zu einem sog. Leitentscheidungsverfahren ernennen können (§ 552b ZPO n. F.). Die Instanzgerichte können bei ihnen anhängige Parallelverfahren mit Zustimmung der Parteien währenddessen aussetzen, § 148 Abs. 4 ZPO n. F.
Eine Entscheidung des BGH über das einmal ausgewählte Leitentscheidungsverfahren bleibt dabei auch dann möglich, wenn sich das Verfahren (etwa durch Rücknahme der Revision oder Vergleich) erledigt, § 565 ZPO n. F.
Deutschland – OLG Stuttgart weist Klimaklage gegen Mercedes zurück
Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) ist auch in zweiter Instanz mit dem Versuch gescheitert, den Autobauer Mercedes-Benz zu einem klimagerechten Umbau zu zwingen. Das Stuttgarter Oberlandesgericht (OLG) wies die Berufung der DUH am 9. November 2023 als offensichtlich unbegründet ab (Az. 12 U 170/22) und bestätigte damit ein Urteil des Landgerichts Stuttgart.
Die DUH wollte erreichen, dass Mercedes-Benz ab November 2030 keine herkömmlichen Verbrenner mehr verkauft, damit der Kohlendioxidausstoß im Einklang mit dem Pariser Klimaabkommen und dem deutschen Klimaschutzgesetz verringert wird. Die DUH stützt sich dabei auf den sog. Klimabeschluss vom 24. März 2021 des Bundesverfassungsgerichts (Az. 1 BvR 2656/18 u. a.), aus dem sie ableitet, dass über die mittelbare Drittwirkung von Grundrechten auch privatwirtschaftliche Unternehmen dem verfassungsrechtlichen Klimaschutzauftrag aus Art. 20a Grundgesetz verpflichtet sein.
Das OLG Stuttgart verneinte einen Anspruch aus §§ 12, 862, 1004 BGB analog, da der Autobauer durch das als solches rechtmäßige Inverkehrbringen von Verbrennungsmotoren keinen rechtswidrigen Zustand herbeigeführt habe. Dieser könne allenfalls bei einer mittelbaren Drittwirkung von Grundrechten gegen Privatunternehmen angenommen werden. Doch selbst wenn man eine solche Drittwirkung annähme – so das OLG Stuttgart – dürfe diese nicht weiter reichen als die Verpflichtung, die sich unmittelbar aus den Grundrechten gegenüber dem Staat ergibt. Dieser Verpflichtung zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen sei der Gesetzgeber jedoch mit seinem Beschluss zum EU-Klimaschutzpaket „Fit für 55“ nachgekommen. In diesem Beschluss ist geregelt, dass in der EU ab dem Jahr 2035 keine Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor mehr neu zugelassen werden dürfen.
Der Beschluss ist noch nicht rechtskräftig. Die DUH kann beim BGH Nichtzulassungbeschwerde einlegen.
Europa – Mündliche Verhandlung in Klimaschutzklage vor dem EGMR gegen 33 Staaten
Am 27. September 2023 hat vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine mündliche Verhandlung im Fall Duarte u. a. gegen Portugal und 32 weitere Staaten stattgefunden. Der Fall (Beschwerde-Nr. 39371/20) wurde 2020 von sechs portugiesischen Jugendlichen eingereicht.
Die Antragsteller hatten 2017 erlebt, wie etwa 200 Kilometer nordöstlich von Lissabon große Waldgebiete in Flammen standen, ganze Ortschaften zerstört wurden, mehr als hundert Menschen starben und eine Vielzahl verletzt wurde. Der Vorwurf an Spanien und die anderen beklagten Staaten lautet nun, dass diese bisher keine hinreichenden Schutzmaßnahmen i. V. mit den sich aus dem Pariser Klimaschutzabkommen von 2015 ergebenden Verpflichtungen ergriffen haben. Sie machen dabei u. a. ihr Recht auf Leben (Art. 2), auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8) sowie das Verbot von Diskriminierung (Art. 14) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) geltend. Die beklagten Staaten wendeten gegen die Klage u. a. die mangelnde Erschöpfung des nationalen Rechtswegs ein.
Indes hat der EGMR die Verfahren nicht nur überraschend priorisiert, indem er sie entgegen dieser grundsätzlichen Vorgabe überhaupt zur Entscheidung angenommen hat, sondern das Verfahren auch in der Anzahl der die Kammer besetzenden Richter aufgewertet: Es entscheiden statt der normalen fünf mindestens siebzehn Richterinnen und Richter.
Insgesamt gibt es derzeit nach einem UN-Bericht weltweit mehr als 2.000 Klagen gegen Regierungen und Unternehmen, die zum Ziel haben, den Klimawandel aufzuhalten. Seit 2017 hat sich die Zahl der Klagen dabei verdoppelt.
Europa – Bericht zur neuen Produkthaftungsrichtlinie durch das Europäische Parlament angenommen
Am 10. Oktober 2023 hat der Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz (IMCO) und der Rechtsausschuss (JURI) des EU-Parlaments den Berichtsentwurf (Entwurf eines Berichts über den Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Haftung für fehlerhafte Produkte (2022/0302(COD)) zum Vorschlag der neuen Produkthaftungsrichtlinie mit Änderungsanträgen (Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Haftung für fehlerhafte Produkte, COM(2022) 495 final) angenommen.
Mit den Änderungen an der Produkthaftungsrichtlinie 85/374/EWG sollen die Haftungsregeln an das digitale Zeitalter einschließlich der Entwicklungen im Bereich künstlicher Intelligenz angepasst werden. Ein erster Vorschlag war durch die Europäische Kommission im September 2022 veröffentlicht worden, vgl. PHi 2022, 223 und PHi 2023, 72 ff.
Durch den nun angenommenen Bericht werden insbesondere widerlegliche Vermutungen zum Vorliegen eines fehlerhaften Produkts sowie zum Kausalzusammenhang zwischen seiner Fehlerhaftigkeit und dem eingetretenen Schaden ergänzt, Art. 9 Abs. 3 ProdHaftRL n. F.
Die im Kommissionsvorschlag zunächst einseitig nur gegenüber dem Beklagten vorgesehene Anordnung der Offenlegung der Beweismittel wird erweitert: Eine entsprechende Anordnung soll nun auf Antrag auch gegenüber dem Kläger möglich sein, Art. 8 Abs. 1, Abs. 1a ProdHaftRL n. F.
Ergänzt wurde auch die Verpflichtung der Kommission, eine einfach und öffentlich zugängliche Datenbank zu unterhalten, in der alle rechtskräftigen Urteile der nationalen Gerichte in Verfahren, die gemäß der neuen Richtlinie eingeleitet wurden, sowie andere einschlägige rechtskräftige Entscheidungen im Zusammenhang mit Produkthaftung veröffentlicht werden, Art. 15 Abs. 2 ProdHaftRL n. F.
Nachdem das Parlament seinen Standpunkt zu den überarbeiteten Vorschriften verabschiedet hat, werden nun die Abgeordneten mit den EU-Mitgliedstaaten über die endgültige Ausgestaltung der Gesetzgebung verhandeln.
USA – Tesla gewinnt ersten US-Prozess um tödlichen Unfall mit Autopiloten
Der Elektroautohersteller Tesla hat Ende Oktober 2023 den ersten US-amerikanischen Prozess um die Rolle eines Autopiloten bei einem tödlichen Autounfall gewonnen. Die Geschworenen befanden den Konzern als nicht für den Unfall verantwortlich.
Bei dem Unfall hatte im Jahr 2019 der Tesla eines Mannes nach einem Unfall auf einem Highway Feuer gefangen. Der Fahrer kam ums Leben, zwei Mitfahrer wurden schwer verletzt. Der Anwalt der Hinterbliebenen hatte vor Gericht den Autopiloten für den Vorfall verantwortlich gemacht und USD 400 Mio. Schadensersatz gefordert. Das Assistenzsystem habe „von sich aus“ die Fahrtrichtung gewechselt.
Tesla hatte darauf verwiesen, dass der Fahrer auch bei Nutzung des Autopiloten grundsätzlich stets bereit sein müsse, die Kontrolle zurückzuübernehmen, sollte es zu unvorhergesehenen Ereignissen kommen. Der Konzern sah es im konkreten Fall nicht als bewiesen an, dass der Autopilot überhaupt eingeschaltet gewesen war. Eine solche Richtungsänderung wie hier erfolgt sei, könne nur von einem Menschen im Fahrzeug ausgelöst worden sein.
Dieser Darstellung folgte die Jury, u. a. auch, da die üblicherweise von den Fahrzeugen aufgezeichneten Daten zu Fahrverhalten und aktivierten Systemen im konkreten Fall aufgrund des Feuers am Fahrzeug nicht mehr verfügbar waren.
Weitere siebzehn Verfahren betreffend tödliche Unfälle mit Autopilotenbeteiligung sind gegen Tesla anhängig. Anfang 2024 wird der Fall eines tödlichen Unfalls im Silicon Valley aus dem Jahr 2018 verhandelt werden, bei dem ein Mensch bei einem Zusammenstoß mit einem Betonpoller auf einem Highway ums Leben gekommen war.
Gegen Tesla laufen zudem strafrechtliche Ermittlungen des US-Justizministeriums wegen der Behauptung in Werbematerialien, die Fahrzeuge könnten vollständig selbst fahren. Das US-Justizministerium leitete die bisher geheim gehaltenen Ermittlungen im vergangenen Jahr ein, nachdem es zu mehr als einem Dutzend Unfällen gekommen war, von denen einige tödlich endeten, an denen Teslas Fahrerassistenzsystem „Autopilot“ beteiligt war. Tesla verweist auf seine ausdrücklichen Warnungen an Fahrerinnen und Fahrer, dass sie ihre Hände am Lenkrad lassen und die Kontrolle über ihr Fahrzeug behalten müssen, während sie den Autopiloten benutzen.
USA – Umweltschutzbehörde EPA verabschiedet wichtige neue PFAS-Vorschriften
Im Rahmen ihrer Strategie zur landesweiten Regulierung und Bekämpfung von Per- und Polyfluoralkylsubstanzen (PFAS) hat die US-Umweltschutzbehörde EPA (U.S. Environmental Protection Agency) am 28. September 2023 wichtige neue Vorschriften im Rahmen des Toxic Substances Control Act (TSCA) veröffentlicht, die sich auf zahlreiche Interessengruppen in einer Vielzahl von Branchen auswirken dürften, vgl. zu früheren Entwicklungen bereits PHi 2023, 57.
So müssen nach TSCA Abschnitt 8(a) (7) ab dem 13. November 2023 Hersteller und Importeure von PFAS oder PFAS-haltigen Artikeln, die seit dem 1. Januar 2011 PFAS, PFAS-haltige Artikel, PFAS in Mischungen, Nebenprodukten oder als Verunreinigung in beliebiger Menge zu kommerziellen Zwecken (einschließlich Vermarktung sowie Forschung und Entwicklung) hergestellt oder importiert haben, nun Informationen über die Verwendung von PFAS, Produktionsmengen, Entsorgung, Exposition, Gefahren sowie Umwelt- und Gesundheitsauswirkungen übermitteln.
Nach einer Erweiterung der Definition von PFAS deckt die neue Vorschrift dabei nun etwa 1.462 bekannte TSCA-Stoffe ab, darunter auch Fluorpolymere.
Auch der Umfang der zu übermittelnden Informationen wurde erhöht, zu melden sind nun bspw. auch Informationen zur chemischen Identifizierung der Stoffe, Beschreibung der Nebenprodukte, die bei der Herstellung, Verarbeitung, Verwendung oder Entsorgung der einzelnen Stoffe oder Gemische entstehen, Vorhandene Informationen über Umwelt- und Gesundheitsauswirkungen und Informationen über Freisetzungen oder Entsorgung. Gleichzeitig werden mit der endgültigen Regelung alle Ausnahmen von der Meldepflicht für gewerbliche Unternehmen abgeschafft. Als Frist für die Meldung ist der 8. Mai 2025 vorgesehen.
Auch die US-Bundesstaaten beteiligen sich zunehmend an der Bekämpfung der „ewigen Chemikalien“, vgl. z. B. PHi 2023, 118 f.; PHi 2023, 145. So hat jüngst am 12. und 13. September 2023 die kalifornische Legislative Gesetzentwürfe zur schrittweisen Abschaffung von PFAS in einer Reihe von Reinigungs-, Haushalts-, Automobil- und Industrieprodukten sowie in Kunstrasen verabschiedet. Wie bei anderen kalifornischen Gesetzen, die sich mit PFAS in Kochgeschirr, Lebensmittelverpackungen und Kinderprodukten befassen, werden auch in diesen Gesetzentwürfen niedrige TOF-Grenzwerte (TOF = Total Organic Fluorine, Gesamtfluorid in organischen und anorganischen Formen) festgelegt.
Ausgabe von September 2023
Deutschland – BGH stellt (Vertriebs‑)Händler in Sachen Verkehrssicherungspflichten bei Zweckveränderung von Produkten Herstellern gleich
Mit seinem neuesten Produkthaftungsurteil hat der BGH die Umrisse des ausdifferenzierten Systems der deliktischen Produzentenhaftung aufgeweicht und für (Vertriebs‑)Händler erweitert (BGH, Urt. v. 21. März 2023 – VI ZR 1369/20).
Anders als Hersteller und Quasi-Hersteller trafen (Vertriebs‑)Händler im Rahmen der auf § 823 Abs. 1 BGB gestützten deliktischen Produkthaftung bisher Verkehrssicherungspflichten nur in Gestalt der Instruktions- und Produktbeobachtungspflichten. Für die Sicherheit der von ihnen vertriebenen Produkte waren sie bisher nur eingeschränkt verantwortlich. Eine Untersuchung der vertriebenen Ware auf gefahrfreie Beschaffenheit war nur erforderlich, wenn sie bspw. durch Bekanntwerden von Anwendungsproblemen oder sonstigen Verdachtsmomenten nahelag. Diese Pflicht hat der BGH nun ausgeweitet.
Konkret hatte ein gewerblicher Händler zunächst eine als „Abfall“ deklarierte Flüssigkeit übernommen, diese dann in „Düngemittel“ umdeklariert, eine gleichlautende Produktinformation dafür erstellt und das Produkt so an den Kläger veräußert. Durch eine Verunreinigung des Produkts mit Herbiziden entstand dem Kläger aus der Verwendung als Dünger ein Schaden.
Nach Ansicht des BGH hat der Vertriebshändler allein mit der Umdeklaration ein neues Erzeugnis geschaffen und in den Verkehr gebracht – auch ohne physische Veränderung des Produkts selbst. Der Händler sei deshalb in diesem Fall im deliktsrechtlichen Sinne wie ein Hersteller zu behandeln, sodass ihn auch die damit einhergehenden vollumfänglichen Verkehrssicherungspflichten treffen.
Deutschland – BGH erteilt Hinweise zur Abgrenzung der spezialgesetzlichen Prospekthaftung zur Haftung wegen Verschuldens bei Vertragsschluss
Am 11. Juli 2023 hat der Bundesgerichtshof Hinweise erteilt, welche die Abgrenzung der spezialgesetzlichen Prospekthaftung zur Haftung wegen Verschuldens bei Vertragsschluss betreffen.
In mehreren anhängigen Verfahren ging es um Schadensersatzforderungen von Gründungsgesellschaftern einer Publikumskommanditgesellschaft, die sich als Anleger in den Jahren 2010 und 2011 nicht hinreichend über kapitalmäßige bzw. personelle Verpflichtungen in der Gesellschaft, die Immobilieninvestments auf dem US‑Markt plante, aufgeklärt fühlten.
Auf ihre Nichtzulassungsbeschwerden hin hat der BGH durch Beschlüsse vom 21. März 2023 die Revision zugelassen. Durch Beschlüsse vom 27. Juni 2023 wurden die Parteien darauf hingewiesen, dass nach vorläufiger rechtlicher Bewertung in den Augen des BGH auch eine Haftung der geschäftsführenden Kommanditistin der Fondsgesellschaft unter dem Gesichtspunkt des Verschuldens bei Vertragsschluss (culpa in contrahendo) in Betracht komme (BGH, Beschl. v. 27. Juni 2023, Az.: II ZR 57/21, II ZR 58/21 und II ZR 59/21).
Er teilte mit, dass er an seiner Rechtsprechung festhalten würde, nach der eine Haftung aus Verletzung vorvertraglicher Aufklärungspflichten nach §§ 280 Abs. 1, Abs. 3, 282 Abs. 2, 311 Abs. 2 BGB auch neben der Prospekthaftung nach § 13 VerkProspG, §§ 44 ff. BörsG in der bis 31. Mai 20212 geltenden Fassung möglich sei, auch wenn letztere spezieller sei.
Geändert werden sollen aber die allgemeinen Aufklärungspflichten der Altgesellschafter. Eine vorvertragliche Pflicht zur Aufklärung soll Altgesellschafter danach künftig nur noch treffen, wenn sie selbst den Verrieb der Beteiligungen an Anleger übernehmen oder sonst für den von einem anderen übernommenen Vertrieb Verantwortung tragen.
Europa – Neue EU‑Maschinenverordnung veröffentlicht
Am 29. Juni 2023 wurde die neue EU‑Maschinenverordnung (EU) Nr. 2023/1230 im Amtsblatt der EU veröffentlicht. Im Gegensatz zu ihrem Vorgänger, Richtlinie 2006/42/EG, ist sie unmittelbar in den Mitgliedstaaten anwendbar; gleichzeitig bringt sie einige relevante Product-Compliance-Änderungen mit sich (s. hierzu auch den Beitrag von Schucht, Produktbeobachtung als Gegenstand des Produktsicherheitsrechts, Teil 2, PHi 5/2023 [erscheint Anfang Oktober 2023]).
So wird Künstlichen Intelligenz (KI) an vielen Stellen berücksichtigt: Der Begriff des Sicherheitsbauteils umfasst künftig auch digitale Bauteile wie Software, Art. 3 Nr. 3; die grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsanforderungen werden insbesondere hinsichtlich Cybersicherheit und KI deutlich erweitert und umfassen nun auch die Pflicht der Hersteller, angemessene Sicherheitsmaßnahmen gegen Angriffe Dritter zu etablieren, die „Lernphase“ einer KI in der Risikobeurteilung zu berücksichtigen sowie die Grenzen des Lernens im Voraus festzulegen und mit Schutzmaßnahmen abzusichern.
Zurückhaltender erfolgt die Einarbeitung von Digitalisierung: So haben sämtliche Nutzer gerade hinsichtlich der immer umfangreicher werdenden Betriebsanleitungen die Möglichkeit, diese auch in Papierform nachzufordern – bei Vorhersehbarkeit der Verwendung durch private Nutzer muss sogar eine Papierversion beigefügt werden, Art. 10 Abs. 7 UAbs. 3.
Die Verordnung kodifiziert darüber hinaus den Begriff der „wesentlichen Veränderung“, bei deren Vornahme eine neue Maschine vorliegt, was u. a. ein neues Konformitätsverfahren erforderlich macht. Wesentliche Veränderung ist nun jede vom Hersteller nicht vorgesehene oder geplante physische oder digitale Veränderung nach Inverkehrbringen bzw. Inbetriebnahme, wenn dadurch eine neue Gefährdung geschaffen oder ein bestehendes Risiko erhöht wird, Art. 3 Nr. 16. Die vornehmende Person wird durch die Veränderung zum Hersteller, wodurch alle gem. Art. 10 für diese vorgesehenen Pflichten auch für die verändernde Person gelten, Art. 18.
Weiterhin müssen künftig auch Importeure und Händler die Pflichten des New Legislative Frameworks hinsichtlich Maschinen erfüllen – insbesondere trifft sie die behördliche Meldepflicht bei erkannten Produktrisiken.
Die Verordnung ist am 19. Juli 2023 in Kraft getreten und nach einer Übergangszeit von dreieinhalb Jahren zwingend anwendbar.
USA – Social Media Plattformen drohen Klagewellen
Konzernen wie TikTok, Meta, Snapchat und Co drohen in den USA eine Welle an Sammelklagen. Nachdem bereits einzelne Schulbezirke gegen die hinter den Social-Media-Plattformen stehenden Konzerne geklagt haben, da die Unternehmen mit ihren Produkten in ihren Augen Angstzustände, Depressionen, Essstörungen und Cybermobbing bei Kindern verschlimmerten, werfen nun auch immer mehr Eltern betroffener Nutzer den Konzernen mangelhafte und für ihre Kinder schädliche Produktgestaltung und aktiv schädigendes Verhalten vor.
Die klagenden Schulbezirke argumentieren, ihre Schulen müssten dadurch kostspielige Maßnahmen wie zusätzliche Fachkräfte für psychische Gesundheit und zusätzliche Schulungen für Lehrkräfte ergreifen, für deren Kosten sie selbst aufkommen müssten.
Die Klagen sind auf Schadensersatz und die Feststellung zur Verpflichtung zum Aufkommen für die Präventionserziehung und die Behandlung der übermäßigen Nutzung gerichtet.
Die Konzerne lehnen jede Verantwortung ab und berufen sich auf Abschnitt 230 des Communications Decency Act. Dieser schützt Onlineunternehmen weitgehend vor einer Haftung wegen von Drittnutzern auf den jeweiligen Plattformen veröffentlichter Inhalte. Weiter verweisen sie auf bereits implantierte Schutzmechanismen für ihre User und deren laufende Verbesserung.
Erfolgreiche Sammelklagen könnten angesichts der in den USA oft hohen Schadensersatzsummen erhebliche finanzielle Folgen für die Unternehmen haben.
Vereinigtes Königreich – Erste Umweltklage im Wege der britischen Sammelklagenregelung eingereicht
Beim Competition Appeal Tribunal (CAT) wurde im Namen von acht Millionen Kunden eine Klage gegen eines der größten britischen Wasserversorgungsunternehmen eingereicht. Das Unternehmen soll die Aufsichtsbehörden über die Menge der Einleitungen von Abwasser in Gewässer getäuscht haben. Es ist das erste Mal, dass die durch den Consumer Rights Act im Jahr 2015 eingeführte Opt-Out-Sammelklage für eine Umweltklage genutzt wurde.
Im Rahmen einer solchen Klage kann ein Kläger eine Klage im Namen einer ganzen Gruppe betroffener Verbraucher einreichen. Verbraucher, die kein Teil davon sein wollen, müssen sich individuell gegen eine Partizipation entscheiden und ausoptieren.
Die Klage gegen Severn Trent Water ist nun die erste von sechs parallelen Klagen, die im Namen von mehr als 20 Millionen Kunden in ganz Großbritannien gegen Wasserversorger eingereicht werden. Die Unternehmen sollen ihre marktbeherrschende Stellung missbraucht und überhöhte Preise bei Kunden abgerechnet haben. Durch das Versäumnis, die Umweltbehörde und das Wasserwirtschaftsamt ordnungsgemäß über austretendes Abwasser zu informieren, seien Strafen umgangen worden, die sich auf den dem Kunden in Rechnung gestellten Preis ausgewirkt hätten.
Im Erfolgsfall könnten die Beklagten verpflichtet werden, jedem, der seit April 2020 eine Rechnung eines dieser Unternehmen bezahlt hat, Schadensersatz zu leisten, wobei der Gesamtschaden über GPD 800 Mio. betragen könnte.
Ob sich Sammelklagen nach der neuen Regelung jedoch auch grundsätzlich als wirksames Mittel zur Durchsetzung von ESG-bezogenen Ansprüchen erweisen werden, ist noch offen. Bisher scheiterten die meisten dieser Klagen an der zweiten Stufe der zuvor erforderlichen CAT‑Zertifizierungsprüfung, bei der der vorgeschlagene Vertreter der Sammelklägergruppe zunächst als handlungsberechtigt, sodann der jeweilige Anspruch als für die Aufnahme in das Sammelverfahren geeignet eingestuft werden muss.
Ausgabe von Mai 2023
Deutschland – „Bronchostop“ keine irreführende Bezeichnung für Hustensaft, der Husten nicht stoppt
In seiner am 16. September 2022 veröffentlichten Entscheidung (Urt. v. 15. September 2022 – 6 U 24/22, GRUR‑RR 2022, 510) hat das Oberlandesgericht Köln entschieden, dass ein Hersteller seinen Hustensaft als „Bronchostop“ vermarkten darf, auch wenn dieser den Husten nicht stoppe, sondern ihn nach Angaben des Herstellers lediglich lindere und das Abhusten fördern könne.
Ein Wettbewerbsverein hatte das herstellende Pharmaunternehmen sowie die Vertreiber des gem. §§ 39a ff. AMG registrierten Arzneimittels auf Unterlassung des Vertreibens und Bewerbens unter Verwendung seines Namens und/oder Unterlassung bestimmter Angaben auf der Verpackung sowie auf Zahlung von Abmahnkosten in Anspruch genommen, da die Zusammensetzung des Namens des Arzneimittels Verbraucher irreführe. Sie verstünden darin aufgrund der Wortbestandteile „Broncho“ und „stop“ ein Produkt, das Atemwegserkrankungen beende, während es nach dem registrierten Anwendungsgebiet nur die „Linderung von […] Reizhusten“ sowie „Förderung des Abhustens“ bewirke. Die Beklagten argumentierten, dass die Bezeichnung aufgrund der Tatbestands- und Bindungswirkung der Registrierung nicht wettbewerbsrechtlich angreifbar sei. Die Bezeichnung sei darüber hinaus auch für Verbraucher rein assoziativ zu verstehen, sodass es nicht zwingend zur befürchteten Irreführung käme.
Das OLG Köln entschied nun, dass durch den Registrierungsbescheid die von den Beklagten behauptete Bindungswirkung zwar gerade nicht eintrete. Dennoch sei die Bezeichnung im konkreten Fall nicht irreführend i. S. des § 8 Abs. 1 Nr. 2 AMG. Was genau mit dem Saft gestoppt werden solle, könne sich für den maßgeblichen Verbraucher aus der Bezeichnung „Bronchostop“ allein nicht erschließen. Da das „Stoppen“ von „Bronchien“ eine erkennbar sinnfreie Aussage sei, ergäben sich für den Verkehrskreis eine Vielzahl weiterer Verständnismöglichkeiten, was durch die Einnahme beendet werden könne, und mithin keine irreführende Erwartungshaltung durch die Bezeichnung.
Europa – EU‑Richtlinie über Prozessfinanzierer
Das Europäische Parlament hat nach Veröffentlichung der Entschließung „European Parliament Resolution 2022/2130(INL)“ am 13. September 2022 die Europäische Kommission aufgefordert, einen Gesetzesvorschlag zu drittfinanzierten Rechtsstreitigkeiten vorzulegen.
In der Resolution stellt das Parlament fest, dass der Anteil der durch Dritte finanzierten Rechtsstreitigkeiten (Third Party Litigation Funding, TPLF) in der EU zunimmt. Neben den damit einhergehenden Gefahren könne TPFL aber gleichzeitig als „Instrument zur Unterstützung des Zugangs zur Justiz“ fungieren. Aus diesem Grund empfiehlt es, die Materie europaweit zu regeln und damit auch bestimmte Risiken in Zusammenhang mit dieser Finanzierung zu begrenzen, indem ein Genehmigungssystem eingeführt und der maximale Anteil des dem Prozessfinanzierer zufließenden Erlöses begrenzt wird.
Den Mitgliedstaaten soll es nach Ansicht des Parlaments freigestellt werden, ob sie TPLF zulassen. Entscheiden sie sich dafür, soll es insbesondere ein System für Registrierung und Zulassung von Prozessfinanzierern geben, die einer Aufsichtsbehörde unterstellt und von dieser jährlich auf ihre Zulässigkeit überprüft werden. Voraussetzung für die Zulassung sollen u. a. der Nachweis einer Ansässigkeit im Mitgliedstaat und das Vorhandensein angemessener Kapitalisierung und Compliance-Strukturen sein. Außerdem soll eine treuhänderische Fürsorgepflicht hinsichtlich der Interessen der Kläger bestehen. Die Verträge mit den Klägern müssen Interessenkonflikte und zu umfangreiche Verfügungsbefugnisse des Finanzierers hinsichtlich der geltend gemachten Ansprüche ausschließen, und der Klagepartei müssen mindestens 60 % des Bruttoerlöses des Prozesses zustehen.
Bisher ist nicht klar, ob und wann die Kommission der Aufforderung des Parlaments folgen wird. Möglicherweise wartet diese zunächst auch die Auswirkungen der Umsetzung der thematisch eng damit verbundenen „Richtlinie über kollektive Rechtsdurchsetzung“ (Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher und zur Aufhebung der Richtlinie 2009/22/EG, COM/2018/184 final – 2018/0089 (COD) – Verbandsklagerichtlinie) ab.
Italien – Gesetzesvorschlag zur Umsetzung der EU‑Richtlinie über Verbandsklagen in erster Lesung angenommen
Am 9. März 2023 hat der italienische Ministerrat den Entwurf eines Gesetzesdekrets (Gesetzesentwurf) zur Umsetzung und Durchführung der Richtlinie (EU) Nr. 2020/1828 über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen von Verbrauchern (Dekret Nr. 28/2023) verabschiedet. Damit treten die Bestimmungen der EU‑Richtlinie in Italien am 25. Juni 2023 in Kraft.
Geregelt werden in dem Dekret nicht nur die Modalitäten der bisher unter die Vorschriften der italienischen Zivilprozessordnung (Codice di Procedura Civile) fallen, sondern nun auch solche von grenzüberschreitenden Sammel- bzw. Verbandsklagen. Damit sind bald auch Klagen vor einem italienischen Gericht durch eine oder mehrere qualifizierte Einrichtungen aus anderen Mitgliedstaaten oder in einem anderen Mitgliedstaat durch eine italienische qualifizierte Einrichtung möglich.
Klagebefugt sind die in einer bestimmten von verschiedenen Ministerien geführten Liste eingetragenen Verbraucherverbände sowie qualifizierte Einrichtungen aus anderen EU‑Mitgliedstaaten, die die dortigen Anforderungen erfüllen und in das neue europäische Register für Verbandsklagen eingetragen sind. Ebenso können die qualifizierten Einrichtungen aus Italien durch grenzüberschreitende Vertretungsklagen im Ausland tätig werden. Ein Mandat durch Verbraucher ist dafür nicht erforderlich.
Für die Eintragung als qualifizierte Organisation unterliegen die Verbände bestimmten Anforderungen und müssen das Fehlen von Interessenkonflikten sicherstellen. Bei der Finanzierung durch Dritte müssen die Kläger die erhaltenen Finanzierungen offenlegen sowie angeben, ob die klagefinanzierende Partei Konkurrent oder Angestellter des Beklagten ist.
Erhoben werden können die Klagen insbesondere gegen Unternehmer. Als solche gilt jede natürliche oder juristische Person, die im Rahmen ihrer gewerblichen, geschäftlichen, handwerklichen oder beruflichen Tätigkeit handelt.
Klagbare Verstöße sind insbesondere solche gegen EU‑Verordnungen und Richtlinien (Anhang II des Dekrets), darunter u. a. solche zur Produkthaftung, zum Verbraucherschutz, zu irreführender Werbung, zum elektronischen Handel und zu digitalen Dienstleistungen.
Mithilfe der Verbandsklagen kann ein Ausgleich des vom Verbraucher erlittenen Schadens u. a. in Form von Geldzahlungen, Nachbesserung, Ersatzlieferung, Preisminderung, Vertragsauflösung oder Rückerstattung des Preises erreicht werden. Ferner kann das Unternehmen aufgefordert werden, das rechtswidrige Verhalten zu unterlassen, eine Fortsetzung des rechtswidrigen Verhaltens kann ihm untersagt werden, und/oder es kann angeordnet werden, die entsprechende Maßnahme oder eine Berichtigung in einer oder mehreren nationalen oder lokalen Zeitungen zu veröffentlichen.
Frankreich – Französische Nationalversammlung verabschiedet Gesetzentwurf zur Umsetzung der EU‑Richtlinie über Verbandsklagen
Am 8. März 2023 hat die französische Nationalversammlung den Gesetzentwurf veröffentlicht, mit dem die EU‑Verbandsklagerichtlinie (RL (EU) Nr. 2020/1828) in nationales Recht umgesetzt werden soll.
Nach der Einführung von Sammelklagen im Jahr 2014 für Verbraucherrechtsstreitigkeiten wurden sie 2016 auf Rechtsstreitigkeiten in den Bereichen Gesundheit, Umwelt, Datenschutz, Antidiskriminierung sowie zuletzt (2018) auf Immobilien ausgeweitet. Mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf werden die Möglichkeiten zur Durchsetzung von Rechten mittels Sammelklagen weiter ausgebaut und erstmals verfahrensrechtlich auf eine gemeinsame Grundlage gestellt. Entsprechend den Vorgaben der EU‑Richtlinie werden sie gleichzeitig auch europaweit harmonisiert.
Während die Aktivlegitimation zu derartigen Klagen im Rahmen der bisherigen Verbraucherschutz-Sammelklagenregelung bisher nur auf einen relativ kleinen Kreis von Verbänden beschränkt war, wird sie nun auf ein breites Spektrum von Verbänden erweitert, die entweder in eine bestimmte Liste eingetragen und registriert sein müssen oder aus mindestens 50 natürlichen Personen, mindestens fünf juristischen Personen des Privatrechts, die seit mindestens zwei Jahren im Handels- und Gesellschaftsregister eingetragen sind, sowie Gewerkschaften und – bei Datenschutzverstößen – der Staatsanwaltschaft bestehen. Außerdem sind die in anderen Mitgliedstaaten zugelassene Einrichtungen klagebefugt; entsprechend werden qualifizierte französische Einrichtungen zur Erhebung grenzüberschreitender Klagen ermächtigt.
Handelt es sich um einen schwerwiegenden Verstoß, können die Verfahrenskosten nach dem neuen Gesetzentwurf dem Staat auferlegt werden, was einen zusätzlichen Anreiz für eine Klageerhebung schafft. Bei Feststellung eines vorsätzlichen Fehlverhaltens der beklagten Partei kann außerdem künftig eine zivilrechtliche Strafe von bis zu 3 % des Jahresumsatzes des jeweiligen Unternehmens verhängt werden.
Der Gesetzentwurf muss nun noch vom Senat verabschiedet werden. Es ist zu erwarten, dass die Zahl der Sammelklagen in Frankreich nach der Verabschiedung des Gesetzentwurfs steigen wird.
Ausgabe von Januar 2023
Europa – Titandioxid: EuGH erklärt Einstufung von Farbpigment als krebserregend für fehlerhaft
In einem am 23. November 2022 veröffentlichten Urteil hat der EuGH die im Jahr 2019 von der EU erlassene Verordnung (EU) 2020/217 für insoweit nichtig erklärt, als sie die Einstufung und Kennzeichnung von Titandioxid als in bestimmten Formen krebserregend betrifft (CWS Powder Coatings u. a. / Kommission, Rechtssache T‑279/20).
Geklagt hatten verschiedene europäische Chemieverbände sowie einige Unternehmen, die ihre den Weißmacher Titandioxid enthaltende Produkte seit dem Erlass der Verordnung (EU) 2020/217 als „krebserregend“ kennzeichnen mussten. Titandioxid mit der chemischen Summenformel TiO2 wird u. a. in zahlreichen Kunststoffprodukten, Wandfarben oder auch Kosmetika wie Zahnpasten oder Sonnencreme eingesetzt.
Das Gericht urteilte nun, dass die entsprechende Verordnung insoweit nichtig sei. Bei der Klassifizierung sei ein Gutachten zur Karzinogenität des Stoffs nicht angemessen bewertet worden. Eine Einstufung als „krebserregend“ wie vorgenommen erfordere, dass der Stoff intrinsisch, also für sich genommen, krebserregend sei. Bei Titandioxid sei dies aber nur in Verbindung mit bestimmten lungengängigen Titandioxidpartikeln der Fall, wenn diese in einem bestimmten Aggregatzustand, einer bestimmten Form, einer bestimmten Größe und einer bestimmten Menge vorhanden seien. Zudem zeige sich der krebserregende Effekt nur bei einer Lungenüberlastung und entspreche einer Partikeltoxizität.
Gegen das Urteil des EuGH kann noch Einspruch eingelegt werden. Nicht berührt davon ist das ebenfalls 2019 in der gleichen Verordnung erlassene Verbot von Titandioxid als Zusatzstoff E 171 in Lebensmitteln, wo es bspw. in Backwaren oder Dragees verwendet wurde.
USA – Oberster Gerichtshof von Ohio erklärt Obergrenze für immateriellen Schadensersatz bei sexuell missbrauchten Personen für verfassungswidrig
Der Oberste Gerichtshof von Ohio hat am 16. Dezember 2022 entschieden, dass die Obergrenze für immateriellen Schadensersatz für junge Opfer, die infolge vorsätzlicher krimineller Handlungen traumatische, weitreichende und chronische psychische Schäden erleiden und die Täter auf zivilrechtlichen Schadensersatz verklagen, verfassungswidrig ist (Brandt v. Pompa, Slip Opinion No. 2022‑Ohio‑4525).
Die im Jahr 2005 in Kraft getretene Obergrenze im Ohio Revised Code, § 2315.18, sieht vor, dass der Schadensersatz für immaterielle Schäden USD 250.000 oder das Dreifache des materiellen Schadens nicht übersteigen darf, höchstens jedoch USD 350.000 pro Kläger oder USD 500.000 für jedes Ereignis. Zu immateriellen Schäden zählen dabei Schmerzen und Leiden, seelische Qualen und andere immaterielle Verluste. Die Grenze wurde eingeführt, um die nachteiligen Auswirkungen unseriöser Klagen auf das Justizsystem und die Wirtschaft von Ohio zu verringern.
Im konkreten Revisionsverfahren hätte die Obergrenze auf den Fall einer Frau angewendet werden müssen, die den Vater einer Jugendfreundin verklagt hatte, weil er sie im Alter von 11 und 12 Jahren sexuell missbraucht hatte. Der Oberste Gerichtshof bestätigte nun ein zu ihren Gunsten ergangenes Schadensersatzurteil mit einer Gesamthöhe von USD 134 Mio., das – entgegen der eigentlich anwendbaren vorgenannten Obergrenze – einen Betrag von USD 20 Mio. für immateriellen Schadensersatz für den Missbrauch enthielt.
Zur Begründung führte der Oberste Gerichtshof aus, es müsse eine Ausnahme von der gesetzlichen Obergrenze für schwere und dauerhafte psychische Verletzungen geben. Für Menschen wie die Klägerin im Ausgangsverfahren bedeute die Obergrenze das Gegenteil der damit beabsichtigten Verbesserung des Gerichtssystems. Da die meisten Versicherungspolicen aufgrund von Ausschlüssen für vorsätzliches Verhalten insbesondere bei Missbrauch oder Belästigung keinen Schutz für die von der Klägerin erlittenen Arten von Verletzungen enthielten, sei einziger Nutznießer der Schadensersatzobergrenze in diesem Fall der Täter und nicht Öffentlichkeit und/oder Versicherungsbranche. Da der Täter ferner bereits strafrechtlich verurteilt worden war, liegt auch keine Gefahr einer rechtsmissbräuchlichen Klage vor, deren Erhebung die Obergrenze verhindern soll.
Zu beobachten ist, ob in Produkthaftungsklagen in Ohio bei besonders schweren immateriellen Schäden künftig ebenfalls Ausnahmen gefordert werden und damit auch in diesen Fällen die Obergrenze für ungültig erklärt wird.