Obwohl die Versicherung gegen Berufsunfähigkeit (BU) unbestritten die hochwertigste Form der Invaliditätsabsicherung ist, ist diese in den marktüblichen Top-Varianten gleichzeitig für viele Berufstätige kaum bezahlbar. Beispielsweise zahlt eine 30-jährige Verkäuferin für eine Top-BU bis zum 67. Lebensjahr in Höhe von 50 % ihres Bruttoeinkommens im Marktdurchschnitt circa 4,5 % ihres Bruttoeinkommens. Für Handwerksmeister fällt der Aufwand im Marktdurchschnitt noch größer aus und beträgt beispielsweise für den Kfz-Meister 5,2 %. Damit liegt er etwa auf dem halben Niveau der Eigenbeiträge, die ein gesetzlich versicherter Arbeitnehmer an die Deutsche Rentenversicherung leistet. Da dieser zusätzliche Aufwand oft nicht erbracht werden kann, ist die Top-BU nicht für alle Berufstätige die optimale Absicherungsform.
Um auch Berufstätigen mit einer geringeren Kaufkraft einen Invaliditätsschutz anzubieten, hat man in der Vergangenheit oft alternative Produkte angeboten, die sich vom Begriff der BU gelöst haben. Lange Zeit war dies die Erwerbsunfähigkeitsversicherung. Zuletzt hat sich hier alternativ erfolgreich das Segment der Grundfähigkeitsversicherungen gebildet.
Da es jedoch weiterhin einen signifikanten Kundenkreis gibt, der sich einen Invaliditätsschutz mit unmittelbarem Bezug zu seinem Einkommen und Beruf wünscht, möchten wir im Folgenden beschreiben, wie in mehreren Schritten aus einem Top-BU-Produkt ein bedarfsgerechtes und preislich attraktives Invaliditätsprodukt für körperlich tätige Personen entstehen kann, welches weiterhin dem BU-Begriff entspricht.
Schritt 1: Verzicht auf Bedingungserweiterungen
Die meisten BU-Bedingungswerke wurden in den letzten Jahren um viele kleine Verbesserungen angereichert. Die Motivation für diese Verbesserungen beziehungsweise die Auslöser für die Anpassungen sind vielschichtig. So ist ein Teil der neuen Bedingungselemente auf die Rater zurückzuführen. Ein Beispiel hierzu ist der Verzicht auf das „mehr als altersentsprechend“ beim Kräftefall in der BU-Definition. Ein solches Detail ist für die oben genannte Verkäuferin, die auf der Suche nach einem bezahlbaren BU-Schutz ist, jedoch nicht wichtig.
Weitere kleine Verbesserungen ergaben sich durch die Spezialisierung auf gewisse Zielgruppen. Zu nennen ist hier beispielsweise die Infektionsschutzklausel, welche in der Regel dem medizinischen Personal eine Leistung zusagt, falls eine Infektion zu einem vollständigen Tätigkeitsverbot nach dem Infektionsschutzgesetzt führt. Für den oben erwähnten Kfz-Meister ist dieses Element aber irrelevant. Ganz im Gegenteil könnte er den Eindruck haben, einen anderen Berufsbereich zu subventionieren.
Schließlich bringt der Wunsch der Versicherer nach Alleinstellungsmerkmalen auch regelmäßig wieder neue Bedingungselemente auf den Markt. Häufig werden dafür Zusatzleistungen in den Leistungskatalog aufgenommen, wie beispielsweise eine abgekürzte Rentenleistung bei Rollstuhlbedarf. Auch diese Erweiterung steht für eine Verkäuferin oder einen Kfz-Meister nicht im Fokus, da bei diesen Berufen bei Rollstuhlbedarf in der Regel Berufsunfähigkeit vorliegt.
Auch wenn jede kleine Bedingungsverbesserung für sich betrachtet für einen speziellen Personenkreis sinnvoll ist, bringt sie dennoch zusätzliche Leistungsfälle oder erhöhte Leistungen mit sich. Häufig bewegt sich der Mehrwert dieser Leistungen nur im Promillebereich der Prämie. In Summe führen sie aber dennoch zu einer spürbaren Prämienerhöhung. Größere Leistungserweiterungen im Rahmen der BU-Produkte wie zusätzliche Pflegeleistungen oder Leistungen bei Arbeitsunfähigkeit treiben das Prämienniveau nochmals nach oben. Steht ein möglichst bezahlbarer BU-Schutz im Vordergrund, liegt ein Verzicht auf all diese Leistungserweiterungen nahe. Gleichzeitig wird auf diese Weise das Bedingungswerk vereinfacht.
Schritt 2: Reduzierung der Anzahl der Leistungsfälle
In der Vergangenheit hat sich die Anzahl der BU-Leistungsfälle unter anderem durch die Verkürzung des Prognosezeitraums erhöht und somit zu einem Prämienmehrbedarf geführt. Der Prognosezeitraum beträgt in den meisten Versicherungsbedingungen sechs Monate und beschreibt die Länge des Zeitabschnitts, den der Versicherungsnehmer voraussichtlich berufsunfähig sein muss, um eine Leistung zu erhalten. Da dieser Blick nach vorn natürlich auf Annahmen beruht, kommt es auch durch dieses Bedingungselement zu kurzfristigen Leistungszahlungen für Versicherte, die rückwirkend betrachtet nicht über den erforderlichen Zeitraum berufsunfähig waren. Da es der Zielgruppe der körperlich Tätigen vornehmlich darum geht, einen langfristigen Ausfall ihrer Arbeitskraft abzusichern, ist für sie ein kurzer Prognosezeitraum nicht wichtig. Gleichzeitig würde eine signifikante Verlängerung des Prognosezeitraums zusätzliche, kurzlaufende Leistungsfälle reduzieren. Um dieses zu erreichen, ist bei der Wahl des Prognosezeitraums wichtig, dass dieser deutlich länger als der Fiktionszeitraum der BU-Definition ist. Dabei ist der Fiktionszeitraum der Zeitabschnitt, in dem man bereits berufsunfähig gewesen sein muss, um die Leistung zu erhalten. Dieser Zeitraum beträgt in der Regel ebenfalls sechs Monate.
Da der Verkäuferin der Schutz vor einer dauerhaften oder zumindest langfristigen Invalidität am Herzen liegt, könnte darüber hinaus auch der Fiktionszeitraum stärker ausgedehnt werden. Hierdurch würde die Anzahl der kurzzeitigen Invaliditätsleistungen noch weiter zurückgehen. Ein Anheben des Fiktionszeitraums auf bis zu 18 Monate scheint dabei zumindest für gesetzlich Versicherte durchaus sachgerecht, da diese in den ersten 18 Monaten einer Erkrankung auch noch Anspruch auf Krankengeld haben. In diesem Fall sollte der Prognosezeitraum dann auch mindestens 18 Monate betragen – im Idealfall aber eher drei Jahre, um den im letzten Abschnitt beschriebenen Effekt zusätzlicher Leistungsfälle zu vermeiden.
Schritt 3: Reduzierung der Leistungsdauer
Weiteres Einsparpotenzial bei der Prämie ergibt sich durch eine Anpassung auf die Bedarfssituation der Kunden. Zu Beginn der Berufsunfähigkeit ist der Bedarf an BU-Rente häufig noch nicht so ausgeprägt, da noch andere Absicherungen greifen – beim selbstständigen Handwerksmeister beispielsweise ein Krankentagegeld. Einsparungen am langen Ende, wenn sich die Invalidität verfestigt hat und eine Reaktivierung unwahrscheinlicher wird, scheinen nicht sachgerecht, da die BU-Versicherung von der Verkäuferin insbesondere für den langfristigen Verdienstausfall abgeschlossen wird und ihr in dieser späten Phase keine weiteren finanziellen Mittel mehr zur Verfügung stehen.
Ein erster Ansatz zur Reduzierung der Leistungsdauer besteht darin, die Versicherungsleistung nicht mehr rückwirkend, sondern frühestens ab dem Tag des Leistungsantrags zu erbringen. Dieses Leistungsversprechen passt zur Erwartungshaltung des Versicherungsnehmers, der sich bis zum Tag des Leistungsantrags noch nicht als langfristig berufsunfähig gesehen bzw. keinen finanziellen Bedarf einer Ersatzleistung benötigt hat.
Um Härtefällen entgegenzukommen, die beispielsweise aufgrund eines Komas oder einer schweren Depression nicht in der Lage waren, einen Leistungsantrag zu stellen, könnte eine maximale rückwirkende Leistung von drei Monaten vereinbart werden. Dieser Zeitraum wurde gewählt, da in der Regel auch die oben genannten Härtefälle nach drei Monaten in der Lage sind, einen BU-Antrag zu stellen. Alternativ zu der begrenzten rückwirkenden Leistung könnte eine Meldefrist von drei Monaten vereinbart werden. Bei dieser Ausgestaltung würden dann aber nur die Versicherungsnehmer eine maximal dreimonatige rückwirkende Leistung bekommen, die sich innerhalb der ersten drei Monate nach Eintritt der Berufsunfähigkeit beim Versicherer melden.
Sofern der Versicherungsnehmer aufgrund finanzieller Rücklagen oder Absicherungen auch nach Meldung des Leistungsfalls nicht unmittelbar eine Rentenleistung benötigt, kann zusätzlich die Vereinbarung einer Karenzzeit sinnvoll sein. Wenn die oben genannte Verkäuferin beispielsweise nach 18 Monaten Bezug eines gesetzlichen Krankengeldes ihre Ausgaben noch ein weiteres Jahr1 aus ihren Rücklagen bestreiten kann und für sie die BU-Absicherung für den schlimmsten Fall im Fokus steht, sollte sie eine zusätzliche Karenzzeit von zwölf Monaten vereinbaren. In dem gerade beschriebenen Modell darf die BU dann natürlich auch nicht rückwirkend anerkannt werden. Falls auf diese rückwirkende Anerkenntnis jedoch nicht verzichtet werden soll, muss die Karenzzeit dann entsprechend erhöht werden. Im Leistungsfall bleibt schließlich zu entscheiden, ob eine Karenzzeit noch zur Anwendung kommt und falls ja, in welcher Länge.
Schritt 4: Reduzierung der Leistungshöhe
Eine Reduzierung der Leistungshöhe ist beispielsweise in Abhängigkeit vom Krankheitsbild vorstellbar. Die Zielgruppe, die einen Invaliditätsschutz mit unmittelbarem Bezug zu ihrem Einkommen und Beruf wünscht, möchte dabei jedoch kein Krankheitsbild ausschließen, da sie sich bei jeder Erkrankung eine grundlegende Absicherung wünscht. Allerdings kann die grundlegende Absicherung für Krankheiten, von denen sie subjektiv betrachtet eher nicht betroffen sein werden, geringer ausfallen. Dabei muss die Leistungshöhe aber weiterhin eine relevante Höhe haben. Auf diese Weise wird zudem die Anzahl der Härtefälle mit einer zu geringen Absicherung minimiert.
Als neue Leistungshöhe könnte zum Beispiel für ausgewählte Krankheiten eine reduzierte Rentenleistung in Höhe von 50 % in Betracht kommen und somit eine dauerhafte Absicherung sichergestellt werden. Eine andere Alternative ist eine befristete Rentenleistung. Hierbei würde der langfristige Absicherungsgedanken dann dem der Bereitschaft zur Umorientierung weichen. Der Versicherer muss in jedem Fall darauf achten, dass die Leistungshöhe transparent dargestellt wird. Die genaue juristische Ausgestaltung wäre noch zu diskutieren.
Ein erster Kandidat für eine reduzierte oder befristete Leistung scheint die psychische Erkrankung (ICD-Code mit führendem „F“) zu sein – insbesondere deshalb, weil es viele körperlich tätige Versicherungsnehmer mit der Auffassung gibt, dass sie von psychischen Erkrankungen nicht betroffen sein werden oder als Teil des Kollektives nicht für psychische Leistungsfälle in den risikoarmen Berufen aufkommen möchten.
Bei der neuen Prämienkalkulation ist dann jedoch zu beachten, dass nicht nur die Hauptdiagnose für den Leistungsfall entscheidend ist. Beispielsweise könnte bei einer Leistungseinschränkung im Bereich der psychischen Erkrankungen in vielen Fällen eine vorhandene Nebendiagnose wieder zu einem vollwertigen BU-Leistungsfall führen. Eine ähnliche Ausweichbewegung ist noch aus der Zeit bekannt, in der psychische Erkrankungen in der Gesellschaft stärker stigmatisiert wurden. Hier lag dann häufig ein Leistungsfall aufgrund des Bewegungsapparates vor, obwohl die psychische Erkrankung die eigentliche Hauptursache war.
Fazit
Mithilfe der zuvor genannten Anpassungen kann ausgehend von einer Top-BU ein weiterhin leistungsstarkes, aber günstigeres BU-Produkt entwickelt werden, das etwa 35 % günstiger als die aktuelle Top-BU ist. Auf diese Weise kann eine Zielgruppe erschlossen werden, der die Top-BU zu teuer ist und der bei einer Grundfähigkeitsversicherung der Berufsbezug fehlt. Bei dieser BU-Absicherung ist der Preis dann aber wichtiger als eine Luxusabsicherung. Die BU-Absicherung der Verkäuferin wird so zu einer BU-Prämie der Zahnärzte möglich und damit erschwinglich. Dies bedeutet, dass eine Verkäuferin für 50 Euro Monatsbeitrag einen BU-Schutz erhalten kann, der 50 % ihres Nettoeinkommens2 absichert.
Damit jedoch ein solches Produkt erfolgreich wird, ist auch ein Umdenken nötig, denn nicht jede Person benötigt oder wünscht sich den maximal umfassenden Versicherungsschutz – vielen genügt auch eine Absicherung mit Selbstbeteiligung. Wenn man über den Tellerrand der BU blickt, sieht man auch dort großen Erfolg bei Produkten ohne Zusatzleistungen (z. B. Risikoleben) oder mit Selbstbeteiligung (z. B. Haftpflicht). Dieses bedeutet natürlich auch, dass für den Vermittler kein Haftungsrisiko besteht, wenn ein solches Produkt vom Kunden gewünscht wird. Ganz im Gegenteil könnte zum Beispiel ein Top-BU-Produkt mit zu kurzer Versicherungsdauer für einen Versicherungsnehmer nicht bedarfsgerecht sein.
Falls Sie an einem neuen BU-Produkt interessiert sind, unterstützen wir Sie gern bei der Umsetzung Ihrer Ideen mit unserem Wissen. Dabei kann das Produkt durch die individuelle Auswahl der Bedingungselemente genau auf die Bedürfnisse Ihrer Kunden zugeschnitten werden. Hierbei diskutieren wir auch gern innovative Ansätze wie z. B. abschnittsweise Deckungen mit Ihnen. Sprechen Sie uns an, wenn Sie in der BU neue Wege gehen möchten!
Endnoten
- Gemäß WSI-Verteilungsbericht 2017 reicht das Vermögen deutscher Haushalte bei Einkommensausfall im Median für 23 Monate.
- Auf Basis von Statista wurde hier ein Nettoeinkommen in Höhe von 1.500 Euro angenommen.